BERLIN. Beim Gefangenentheater geht es um theaterpädagogische Resozialisierung. Allerdings kommt die Sozialtherapie “durch die Hintertür” – zunächst einmal sollen Häftlinge Selbstwirksamkeit spüren.
Mit martialischen Rufen stürmen die Männer zu tiefen Paukenschlägen auf die Bühne. Im Hintergrund sind zwei rötliche Bauten mit Gittern an den Fenstern zu sehen. Das Publikum sitzt auf einer hölzernen Empore. Hinter den Besucherinnen und Besuchern liegen Sicherheitskontrollen und für wohl die meisten ungewohnte Einblicke in eine Haftanstalt. Für rund 100 Minuten wird der Freistundenhof der JVA Tegel zur Bühne unerwarteter Talente, werden Straftäter zu bejubelten Darstellern, erleben die Gäste eine bunt gemischte Gruppe verschiedener Nationalitäten und Charaktere – zusammengeschweißt zu einem Ensemble voller Spielfreude.
«Es ist immer wieder bemerkenswert, auf wie viel Kreativität und Potenzial wir im Gefängnis stoßen», sagt Produktionsleiterin Sibylle Arndt vom Berliner Gefängnistheater «Aufbruch». Das Projekt gibt es seit 25 Jahren, es ist nach Angaben des Deutschen Archivs für Theaterpädagogik das bekannteste Ensemble dieser Art in Deutschland. Ziel sei «eine vorurteilsfreie Begegnung zwischen draußen und drinnen», so Arndt. «Selbst wenn Zuschauer aus Voyeurismus gekommen sind, merken sie, dass sie es hier mit Menschen zu tun haben, die eine Leistung gezeigt haben.»
Nach fast zehn Jahren Pause hat die Gruppe wieder ein Freilufttheater inszeniert: «Die Hermannsschlacht» nach Christian Dietrich Grabbe (1801-1836). Das Geschichtsdrama behandelt die historische Schlacht im Jahr 9 n. Chr. zwischen dem Cheruskerfürsten Hermann und dem römischen Heer unter Varus.
Ausdrücklich erwünscht bei der Arbeit mit anspruchsvollen Stoffen wie etwa «Der Sturm» von William Shakespeare oder «Kohlhaas» von Heinrich von Kleist ist die Lebenserfahrung der Spieler. «Man quatscht sich ran», beschreibt Regisseur Peter Atanassow die Arbeit mit diesem besonderen Ensemble. «Wir wissen nie, wohin es letztlich geht.»
Gemeinsames Theaterprojekt von Schülerinnen und Schülern eines Gymnasiums und jungen Straftätern in der JVA
Im Fall der «Hermannschlacht» führt dies dazu, dass Grabbes Vorlage verwoben wird mit Texten und Liedern, die auch den unterschiedlichen Nationalitäten der Akteure geschuldet sind. Da wird das «Vater unser» auf Kroatisch gebetet, der Cheruskerfürst mit dem arabischen Ausdruck «Habibi» (deutsch: «Schatz»/«Liebling») begrüßt, der eine berlinert leicht und sagt «icke» statt «ich», der andere rollt das «R». «Wir wollen bewusst Autoren wie Kleist oder Goethe spielen, aber manchmal müssen Textstellen reduziert oder angepasst werden», erklärt Dramaturg Hans-Dieter Schütt. «Da müssen wir wach sein, damit die Jungs nicht die Lust verlieren am Stück.»
Das scheint zu gelingen: Horst ist bereits zum 13. Mal dabei, für Paul ist es das 4. Projekt. «Ich hatte bei der Premiere richtig Angst», sagt dagegen Hussein. Der 27-Jährige spielt zum ersten Mal mit. «Ich vergesse für kurze Zeit, dass ich in Haft bin», beschreibt er sein Gefühl. «Du bist dann einfach wie Du bist.»
Diese Erfahrung ist ihm die Anstrengung wert, die das Projekt mit sich bringt. Wegen seiner Ausbildung müsse er früh aufstehen, für die Aufführung sei täglich von 16.00 bis 20.00 Uhr geprobt worden. «Heute ist der erste Tag, wo ich nicht mehr so aufgeregt war», sagt er freudestrahlend. Man merkt, wie Hussein den Kontakt genießt beim anschließenden Publikumsgespräch. «Wie niedlich, wie die sich freuen», raunt eine junge Zuschauerin ihrer Begleitung zu.
Disziplin, Konzentration, die Bereitschaft, sich im Team einzuordnen und auf andere einzulassen – diese Eigenschaften fordern die Theatermacher von den Häftlingen. Für Straftäter ist das keine leichte Übung. Soziale Verhaltensweisen erlernen wie diese, sind feste Bestandteile in der Haft zur Vorbereitung auf die Entlassung, um im besten Fall künftig ein straffreies Leben zu ermöglichen. Auch Theaterpädagogik spielt beim Thema Resozialisierung eine Rolle.
«Bei uns kommt das aber eher durch die Hintertür», betont Arndt. 1997 habe es das erste Projekt in der JVA Tegel gegeben, daraus sei eine «vertrauensvolle Zusammenarbeit entstanden», berichtet die Produktionsleiterin. Es folgten weitere Aktionen und Aufführungen etwa in der Jugendstrafanstalt, der JVA Plötzensee oder Heidering sowie den Frauenhaftanstalten.
«Das ist keine Sozialtherapie – aber man lernt etwas anderes», sagt Britta Klabunde, Leiterin der Abteilung Soziale Arbeit in der JVA Tegel. Das sei die Anstrengung wert, die das Projekt durch den Besuch von auswärtigen Zuschauern mit sich bringe. So halte etwa ein Häftling, der vorher kaum Deutsch gesprochen habe, nun auf der Bühne einen Monolog. «Die Männer haben nicht nur Fehler gemacht – sie haben auch Ressourcen», so Klabunde. «Und die Zuschauer sehen: Das sind Menschen, die könnten in der U-Bahn neben mir sitzen.»
Der Leiter der JVA Ebrach in Bayern, Gerhard Weigand, hält diesen Aspekt mit Blick auf die spätere Entlassung für wichtig, wie er in dem Film «Compassion – das Projekt» von Alexander Titz erklärt. Dieser dokumentiert ein gemeinsames Theaterprojekt von Schülerinnen und Schülern eines Gymnasiums und jungen Straftätern in der JVA. Die Jugendlichen berichten darin, wie sie zunehmend die Scheu voreinander verlieren, wie die Gruppe zusammenwächst. «Sie stellen fest, das sind eben keine Monster», sagt Anstaltsleiter Weigand. (Marion van der Kraats, dpa)