Studie: Schulbesuch wirkt entscheidend gegen rassistische Ressentiments

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BERLIN. Wie antisemitisch oder antimuslimisch sind Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland eingestellt? Diese Frage haben Berliner Wissenschaftler untersucht und dabei bemerkenswerte Beobachtungen gemacht.

„Für eine vielfältige Gesellschaft sind antimuslimische und antisemitische Einstellungen ein großes Problem. Sie gefährden den sozialen Zusammenhalt und führen im schlimmsten Fall zu Gewalt. Die hohe Zahl registrierter islamfeindlicher und antisemitischer Straftaten zeigt: Es besteht Handlungsbedarf.“ Jan Schneider, Leiter des wissenschaftlichen Stabs des vom Bundesinnenministerium getragenen Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR), zeichnet ein düsteres Bild.

Grundschüler verschiedener Herkunft blättern gemeinsam in einem Comic.
Bei Menschen, die regelmäßig Kontakt zu Personen anderer Herkunft haben, sind Ressentiments deutlich seltener Foto: CDC/Unsplash.com (U. L.)

Für die Gesamtbevölkerung seien in Deutschland antimuslimische oder antisemitische Einstellungen auf der Basis regelmäßiger Befragungen recht gut untersucht. Wie verbreitet sie in verschiedenen Herkunftsgruppen unter der Bevölkerung mit Migrationshintergrund sind, sei dagegen bislang kaum systematisch erforscht worden. Mit einer Datenanalyse anhand des SVR-Integrationsbarometers 2020, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun untersucht, mit welchen Merkmalen antimuslimische und antisemitische Einstellungen im Einwanderungsland zusammenhängen.

So sind Befragte mit Migrationshintergrund, die in Deutschland die Schule besucht haben, seltener antisemitisch oder antimuslimisch eingestellt als jene, die in einem anderen Land zur Schule gegangen sind. „Auch bei Menschen, die regelmäßig Kontakt zu Personen anderer Herkunft haben, sind Ressentiments deutlich seltener“, erläutert Studien-Co-Autorin Nora Storz. So äußerten sich Befragte mit und ohne Migrationshintergrund, die Menschen mit anderer Herkunft in ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis haben, seltener antimuslimisch. Und auch wenn Ressentiments gegenüber Musliminnen und Muslimen in den vergangenen zehn Jahren insgesamt abgenommen hätten, seien sie weiterhin erkennbar. Noch größer ist laut der Auswertung die Skepsis gegenüber dem Islam als Religionsgemeinschaft an sich. „Das gilt vor allem für Menschen mit Migrationshintergrund, die nicht selbst dem muslimischen Glauben angehören. Nur knapp 43 Prozent von ihnen sagen, dass der Islam in die deutsche Gesellschaft passt. Bei den Befragten ohne Migrationshintergrund sagen dies mehr als die Hälfte“, so Dr. Storz.

Statistisch gesehen nehmen Menschen mit Migrationshintergrund der Studie zufolge häufiger eine antisemitische Haltung ein als Menschen ohne. „Nach Auswertung der Daten gehen wir davon aus, dass antisemitische Einstellungen unter türkeistämmigen Musliminnen und Muslimen zum Teil religiös-theologisch begründet sind. Die Haltung von arabischstämmigen Zugewanderten ist dagegen eher auf das politisch-gesellschaftliche Narrativ im Herkunftsland zurückzuführen. Hier spielt der Nahostkonflikt eine nicht unbedeutende Rolle“, berichtet Nils Friedrichs, ebenfalls einer der Studienautoren.

Zudem sei deutlich geworden, dass auch Diskriminierungserfahrungen zum Tragen kämen. „So neigen Menschen mit Migrationshintergrund, die sich aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert fühlen, häufiger zu antisemitischen Einstellungen als Menschen, die eine solche Diskriminierung nicht erfahren haben. Jene hingegen, die sich wegen ihrer Religion benachteiligt sehen, zeigen eher antimuslimische Einstellungen“, so Friedrichs. Das gelte sowohl für das Zusammenleben im Alltag als auch für die Beseitigung strukturell bedingter Benachteiligungen. Insofern liefere die Studie für die Gestaltung von Präventionsmaßnahmen wesentliche Erkenntnisse. Der von der Regierung in ihrem Koalitionsvertrag angekündigte Abbau struktureller Diskriminierung in der Ausbildungs- und Arbeitsmarktpolitik sei in diesem Sinne ein positives Signal. Präventionsprojekte, die sich bereits als wirksam erwiesen haben, sollten nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler möglichst in die Fläche getragen werden.

„Um Vorurteile gegenüber anderen abbauen zu können, ist der Kontakt von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion besonders wichtig. Der interkulturelle und interreligiöse Austausch sollte deshalb vor allem mithilfe niedrigschwelliger Angebote (…) gefördert werden, gerade unter jungen Menschen“, unterstreicht Jan Schneider. Auch die Religionsgemeinschaften spielten hier eine wichtige Rolle. Muslimische Gemeinschaften könnten etwa dadurch einen Beitrag leisten, dass sie in Deutschland ausgebildete Imame einstellen. „Wie die Studienergebnisse zeigen, trägt der Schulbesuch zum Abbau von antisemitischen Ressentiments entscheidend bei. Das liegt unter anderem daran, dass der Holocaust im deutschen Lehrplan eine zentrale Stellung einnimmt. Eine verstärkte Aufklärung über den Holocaust ist deshalb auch im Rahmen integrationspolitischer Maßnahmen sinnvoll – zum Beispiel bei Neuzugewanderten im Rahmen der Orientierungskurse.“

Umfrage: Mehrheit der Schüler ist in der Schule mit Rassismus konfrontiert

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Georg
1 Jahr zuvor

Wenn der muslimische Antisemitismus religiöse oder politische Ursachen hat, bringt eine Thematisierung über den zweiten Weltkrieg wenig bis nichts.

Georg
1 Jahr zuvor

Danke für den Link zur Studie. Bei korrelationskoeffizienten von durchgehend unter 0,5 in allen Kombinationen kann man höchstens von einem schwachen oder mäßigen Zusammenhang sprechen. In diesem Zusammenhang finde ich es sehr mutig von den Autoren, die Daten überhaupt veröffentlicht zu haben.

Die zu bewertenden Aussagen waren aber auch sehr weich formuliert. Bewusst provokante Granaten wie „Meine Tochter darf einen Atheisten/Juden/Christen/Moslem heiraten“ wären viel besser als das schwammige „Meine Stadt darf einen muslimischen Bürgermeister haben“.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Georg

London hat ja einen muslimischen Bürgermeister, Rotterdam auch. Der letztere hat strenge Sitten für die schulische Integration von Zuwanderern eingeführt, die von einem gewissen Herrn Sarrazin sehr gelobt wurden, aber von der Berliner Landesregierung gewiss gar nicht gelobt würden. Es ging u.a. darum, dass die Eltern verpflichtet werden, die Zeugnisse ihrer Kinder in der Schule persönlich abzuholen, andernfalls wird das Kindergeld gestrichen. Und siehe da: das Kindergeld brauchte nicht gestrichen zu werden, sie kamen brav.

447
1 Jahr zuvor
Antwortet  Georg

Ist so ein Fall von „Schulterzucken“, was soll so eine (((Studie))) schon sonst rausbekommen? Das übliche Ergebnis.
Wenn Sie in Ihre Frage noch die Ergänzung „… eine Liebesbeziehung aufnehmen…“ reinpacken wird es richtig lustig. 😀

Carsten60
1 Jahr zuvor

„Muslimische Gemeinschaften könnten etwa dadurch einen Beitrag leisten, dass sie in Deutschland ausgebildete Imame einstellen.“
Genau das will DITIB aber nicht machen, man bevorzugt bisher handverlesene und „politisch zuverlässige“ Imame aus der Türkei. Ditib will zwar künftig auch Imame in Deutschland ausbilden, aber natürlich in Eigenregie und nicht etwa an den „politisch unzuverlässigen“ Universitäten mit dem allzu liberalen Prof. Khorchide als Feindbild.

Gelbe Tulpe
1 Jahr zuvor

Die Ereignisse im Iran oder in Afghanistan zeigen doch, dass man dem Islam misstrauisch gegenübertreten sollte.

Georg
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Wenn in Deutschland der Großteil der Muslime ihre Religion so ausleben würden, wie der Großteil der Christen in Deutschland — nämlich gar nicht — dann würde ich Ihnen recht geben. Aber auch nur dann. Leider ist dem nicht so, weshalb Sie Ihre Augen lieber verschließen als der unbequemen Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Pauschalisieren tun Sie als Redaktion auch, aber nur in die andere Richtung.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Aber warum betonen Sie das? An anderer Stelle schreiben Sie, dass es hier im Forum gar nicht um Religion geht.
Es ist auch sehr die Frage, ob sich die Religionsfreiheit im GG auf die einzelnen Leute bezieht oder auch auf die Religionsfunktionäre. Die letzteren dürfen jedenfalls nicht alles machen und dabei behaupten, das sei Religion. Bekanntlich wird da auch Druck auf die „Gläubigen“ ausgeübt, und der ist nicht legitimiert im Sinne des GG. Das denke ich jedenfalls. Es gibt ja Religionen, bei denen Apostasie (Abfall vom Glauben) mit dem Tode zu bestrafen ist. Das geht in Deutschland nicht offiziell, aber immerhin noch per Lynchjustiz. Es soll Leute geben, die davor große Angst haben.

Georg
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Richtig. Und zwar im privaten Rahmen.

Georg
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Sie wissen ganz genau, dass ich mich auf die aktive Ausübung beziehe.

Hilfe
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Und das wird hier mit roten Daumen bedacht? Im Ernst? Da stehen wohl einige hier nicht auf dem Boden des Grundgesetzes.

Gelbe Tulpe
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Es gibt aber auch das Recht auf körperliche Unversehrheit, der Grundsatz der Gleichwertigkeit beider Geschlechter mit gleichen Rechten und das Recht, einer Religion zu entsagen. Diese Rechte dürfen nicht im Namen der Religionsfreiheit eingeschränkt werden.

Nora
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

An der „Gleichwertigkeit beider Geschlechter“ zweifle ich ebenfalls, ebenso an dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, wenn man einer Religion den Rücken kehrt. Als „ungläubig“ zu gelten, ist nicht ungefährlich und hat oft schmerzliche Konsequenzen.

Sie meinen wahrscheinlich das Recht auf dem Papier, das nur unzureichend schützt, während Gelbe Tulpe und ich mehr auf die Lebenswirklichkeit schauen. Da gibt es durchaus Unterschiede zwischen Mann und Frau oder zwischen gäubig und ungläubig.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Nora

Die Islam-begeisterten Leute setzen eben eine rosarote Brille auf und nehmen die teils brutale Wirklichkeit nicht wahr, die sich ihrerseits direkt auf islamische Vorschriften und Regeln beruft. Da sind selbst hochrangige Politikerinnen manchmal ziemlich naiv. Der Deutsch-Syrer Bassam Tibi (Professor für Politikwissenschaft) schildert das ganz anders. Er warnt vor den Islam-Funktionären in den großen vier Verbänden, obwohl er sich selbst als Muslim bezeichnet.
Religionsfreiheit für diejenigen, die ihrerseits eben diese Religionsfreiheit am liebsten abschaffen würden, ist und bleibt problematisch.
Genau wie Parteien in der Demokratie problematisch sind, wenn sie eben diese Demokratie am liebsten abschaffen würden.

Marion
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Gerade heute morgen habe ich in der Tageszeitung (NZ) ein Interview mit Ahmad Mansour gelesen. Er hält es für naiv, den Zusammenhang des iranischen Regimes und islamischer Religion zu verleugnen.
Er hat darin auch Annalena Bärbock scharf für ihre Aussage kritisiert, die Tötung der jungen Frau, die sich weigerte ein Kopftuch zu tragen, habe nichts mit Religion zu tun.

Kalle
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Richtig, als Muslim vertritt Herr Mansour „eine differenzierte Position“.Sie ist obendrein mutig.
In dem, was er „falsche Toleranz“ nennt, ist er aber eindeutig.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Im Iran und in Afghanistan haben religiöse Kräfte ja darauf hingearbeitet, dass diese diktatorischen Regierungen etabliert wurden, für Russland ist mir nicht bekannt, dass vorher die Kirche statt Jelzin unbedingt Putin haben wollte und deshalb gegen Jelzin war. In Tunesien und Ägypten haben islamistische Parteien direkt im Wahlkampf kandidiert und waren erfolgreich. Selbstverständlich hatten Khomeini und Mursi mehr mit dem Islam zu tun als Putin mit dem Christentum. Beim letzteren ist das doch mehr nur Show, um die Kirche mit einzubinden.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Sie wissen genau, dass das anders ist: Die Muslime halte ich für Opfer und nicht für „doof“, aber die Islam-Funktionäre halte ich für gewissenlose und reaktionäre Täter, auch die Islamisten in Tunesien, Ägypten und Iran, die dort regieren oder regiert haben.

Warum können wir uns nicht auf folgendes einigen:
Wir brauchen eine Emanzipation der Katholiken von ihren reaktionären Bischöfen und Kardinälen, und wir brauchen eine Emanzipation der Muslime von ihren reaktionären Befehlshabern, die gerne die Nähe zu Diktatoren suchen oder gar selber regieren. Die Strukturen sind in beiden Fällen ähnlich. Woher kommt nur diese Nachsichtigkeit von (subjektiv) progressiv denkenden Leuten für reaktionäre Religionsfunktionäre?

Georg
1 Jahr zuvor
Antwortet  Carsten60

Die Freizeitchristen, die überwiegende Mehrheit der Christen in Deutschland, haben sich von ihren Bischöfen emanzipiert. Freizeitmuslime dürften gemessen am Frauenbild, dem Homosexuellenbild und dem Zustrom in den Moscheen in Deutschland die Minderheit darstellen.

Walter
1 Jahr zuvor
Antwortet  Georg

Freizeitchristen, Freizeitmuslime
Auch Freizeitbeamte, Freizeitlehrer oder Freizeitschweizer?

Gelbe Tulpe
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Ich bin nun einmal ein misstrauischer Mensch, und angesichts der Geschichte und der Inhalte der zentralen Werke vertraue ich Islam, den Kirchen und dem Kommunismus nicht.

Alla
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Es heißt richtig: „Islamische Republik Iran“!

Ist es nicht „ein wenig“ übergriffig den Iranern gegenüber, wenn eine deutsche Redaktion das ‚islamische‘ in Frage stellt?
Auch wenn es verschiedene Strömungen des Islam gibt, wer hat das Recht zu bestimmen, welche zum Islam gehört und welche nicht?
Beziehen sich die Regierendenden im Iran auf einen alternativen Qu’ran, auf eine gefälschte Scharia?

Sind Sie beim Christentum auch so sicher, welches die wahren Christen sind: Orthodoxe, Katholiken, Lutheraner, Evangelikale…. und gehören die anderen dann nicht zu „dem“ Christentum?

So weit mir bekannt ist, heißt Russland einfach Russland und nicht etwa „Christliche Republik Russland“ oder so ähnlich.

Alla
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

Wo habe ich Muslimen in Deutschland alles Schlechte unterstellt, von der Bildungsferne bis hin zur Kriminalitätsneigung?
Wo habe ich den Frauen im Iran abgesprochen, Muslimas zu sein?
Ich habe nur festgestellt, dass es uns in Deutschland nicht zusteht, der Islamischen Republik Iran das islamische abzusprechen!

Wenn Menschen (nicht nur Frauen) im Iran auf die Straße gehen, weil sie gegen die von Regierungsseite vorherrschende Auslegung der Gebote (Verhüllungszwang, Kopftuch) protestieren, ist das ihr gutes Recht, genauso wie in Deutschland lebende Muslime gegen ein Kopftuch-/Verhüllungs-VERBOT protestieren dürfen!

Die Auslegung des Qu’ran ist nicht Sache der Christen sondern der Muslime. Und es gibt da wohl unterschiedliche Auslegungen, die aber nichts damit zu tun haben, ob sich jemand als Moslem bezeichnet.

In den „5 Säulen des Islam“ ist das Kopftuchgebot nicht benannt, weshalb sich selbstverständlich auch Muslima, die kein Kopftuch tragen, als Muslimas bezeichnen können, zumindest hier in Deutschland. Wie es in anderen Ländern aussieht, weiß ich nicht.

Alex
1 Jahr zuvor
Antwortet  Redaktion

„Einschlägig zu Wort melden“ stimmt. Allerdings gilt das bei Zwistigkeiten nicht nur für eine Seite, sondern für beide.
Schlimm finde ich nur, wenn es ins Persönliche geht. Ansonsten gehören Streit und Argumentation zu einer intakten Demokratie..

PaPo
1 Jahr zuvor
Antwortet  Alla

„In den „5 Säulen des Islam“ ist das Kopftuchgebot nicht benannt, weshalb sich selbstverständlich auch Muslima, die kein Kopftuch tragen, als Muslimas bezeichnen können, zumindest hier in Deutschland. Wie es in anderen Ländern aussieht, weiß ich nicht.“

Das ist so nicht richtig. Wie an anderer Stelle bereits erläutert, bilden Koran und Sunna (resp. die Hadithe) das zentrale Glaubensfundament des Islam. Ungeachtet z.T. tatsächlich symbolischer Inhalte, Ambiguitäten u.ä. reklamiert der Koran für sich selbst, die (unerschaffene) Rede Allahs (d.h. das Mohammed direkt offenbarte Wort Allahs) zu sein – der Glaube an die Warhaftigkeit dieser Behauptung ist unzweideutig notwendige Bedingung des Muslimsein (vgl. Sure 2:75; 9:6; 16:40; 48:15). Gegeben ist auch, dass der Koran (d.h. Allah) eine literale Auslegung (vgl. Sure 12:1; 15:1; 16:89; 16:103; 19:97; 27:1; 28:2; 43:2; 44:2) verlangt und auch hier reklamiert, insg. unzweideutig zu sein (Allah als perfekter Kommunikator) – das provoziert natürlich Kontradiktionen (deshalb auch das allgemein anerkannte Abgrogationsprinzip, d.h. dass bei widersprüchlichen Geboten/Verboten die chronologisch zuletzt verkündeten Gebote/Verbote gelten).

Ungeachtet dessen wird zudem die bedingungslose(!) Befolgung alle Ver- und Gebote im Koran selbst (vgl. Sure 4:14; 4:59, 4:115; 24:54; 33:36) verlangt, ebenso wie dass man als Moslem Mohammed nacheifern und ebenfalls bedingungslos gehorchen muss. Das ist integral für das Muslimsein. Hier werden die Hadithe relevant, die die Sunna, die zu befolgenden Taten und Gebote Mohammeds, dokumentieren. Uneinigkeit zwischen den einzelnen muslimischen Glaubenstraditionen existieren primär hinsichtlich der Frage der Authentizität einzelner Hadithe.

Und jetzt zur eigtl. Frage: Warum sind die sog. 5 Säulen des Islam denn eigtl. obligatorisch? Weil sie (a) eine mal mehr, mal weniger elaborierte Fundierung im Koran selbst haben (über diverse Suren verteilt, als fünf von etlichen anderen gleichermaßen obligatorischen Geboten/Vorbildern) und (b) über den sog. Gabriel-Hadith kompiliert und tradiert wurden.

Und jetzt die Preisfrage: Wie sieht es mit einem vermeintl. Kopftuchgebot aus? Richtig! Auch dieses hat seine Legitimation im Koran und den Hadithen, ist also gleichermaßengeboten wie die sog. 5 Säulen des Islam; s. hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Hijab#Quran (an der Stelle könnte man auch verschiedene Übersetzungen der einschlägigen Textstellen anbieten, aber das wäre hier zu viel des Guten)

tl:dr
Irgendeine Form des Kopftuchs (Hijab) für Frauen ist durchaus religiöses Gebot im Islam, Streitigkeit besteht offenbar nur über die Art des Kopftuchs und den konkreten Tragestil.

Und eine persönliche Anmerkung:

Auch wenn ich es insg. enorm begrüße, wenn sich Menschen von jedweder Religion emanzipieren und erst recht, wenn sie ihr komplett entsagen (dies gilt auch für quasi Ersatzreligionen, wie sozio-kultureller/-politischer Ideologe bzw. polit. Religion), finde ich es immer wieder befremdlich, wie manche Menschen glauben (*scnr*), man könne einer Religion beliebig Inhalte entnehmen und hinzufügen und sei dann dennoch ein richtiger (und nicht allenfalls – aus welchen Gründen auch immer – geduldeter) Religionsangehöriger. Wenn es einem hinreichend andere gleichtun, dann begründet man vielleicht ‚bestenfalls‘ eine neue (Denomination einer) Religion, schlechtestenfalls ist man ein Apostat, ein Häretiker.
Ich kann nicht Christ sein und die Dreifaltigkeit leugnen (ja… die Arianer ‚konnten‘ das – nicht), ich kann nicht Katholik sein und nicht an Transsubstantiation glauben, den Papstprimat und das Unfehlbarkeitsdogma negieren und die katholische Kirche als demokratischen Mitmachverein missverstehen u.ä.

Nun hat das Christentum die Ausgangssituation, dass es (a) etliche unterschiedliche Bibeln gibt, in denen z.T. ganz unterschiedliche Bücher (nicht) kanonisiert wurden (von unterschiedlichen Übersetzungen und Co. ganz zu schweigen) und die jeweiligen Bücher in der fragwürdigen Tradition stehen, nicht Gottes direktes Wort, sondern die Niederschriften von göttlich inspirierten Autoren zu sein. Die Bibelexegese kennt zudem (c) auch kein Abrogationsprinzip, außer dort, wo Jesus Christus vermeintl. alttestamentarisches Recht konkret aufgehoben haben soll (Spoiler: Entgegen landläufiger Meinung ist dies für das Gros des alttestamentarischen Gesetzes übrigens nicht der Fall – Matt 5,17 und so…). Angesichts der vielen, vielen, vielen von Widersprüchen in der Bibel (exemplarisch: https://sciencebasedlife.files.wordpress.com/2011/02/biblecontradictions-reasonproject.png) erklärt das auch die 30000+ Denominationen des Christentums, die oft sehr, sehr, sehr unterschiedliche Ansichten zu ein und demselben Thema haben.

Der Islam hat nun aber die hier im zweiten und dritten Absatz skizzierten Probleme, die den Spielraum doch arg eingrenzen. Dem ist ungenommen, dass es (entgegen der Verlautbarungen diverser islamsicher Apologeten) natürlich auch eine Vielzahl unterschiedlicher Koranversionen gibt, dass – wie erwähnt – es in den verschiedenen Glaubensschulen durchaus (und das definiert diese auch zum größten Teil) Abweichungen darüber gibt, welche Hadithe authetnisch seien und welche nicht… bedauerlicherweise betreffen diese Meinungsverschiednenheiten ein Gros der extrem problematischen Glaubensinhalte eben nicht, namentlich etwa die Todesstrafe für Apostasie, den inhärenten Antisemitismus, die Misogynie und Co. (gleiches gilt übrigens auch für das Gros der christlichen Denominationen). Und man muss sich bitte nciht die Augen verwudnert reiben, wenn Gläubige ihre Religion, die ihres Glaubens nach diretk(!) von ihrem Gott(!) gesandten Gebote ernst nehmen, weil ihnen sonst ewige Strafe im Jenseits droht.

Und es ist brandgefährlich, religiöse Schriften, Glaubensfundamente und Co. für sakrosankt zu erklären. Was ein Karlheinz Deschner und ein Christopher Hitchens an Kritik dem Christentum ggü. vorgebracht haben, das muss auch ggü. dem Islam möglich sein (wobei auch hier C. Hitchens sehr aktiv war).

Und man tut gut daran, diese Kritik an der Religion nicht mit einer Pauschalverurteilung der Muslime gleichzustellen, als kuvriertes Vehikel für allerlei -ismen und -phobien zu devalvieren, denn so unterbindet man jede dringen notwendige Progression, jede Emanzipation, jede konrkete Problemanalyse und -lösung.

Und man tut auch gut daran auf beiden Seiten, Religionsangehörige nicht mit Fundamentalisten derselben Religion zu synonymisieren: Eine Sippenhaft für alle Muslime für die Ansichten und Taten einzelner Muslime ist ebenso falsch, wie die Annahme, dass alle Muslime konkludent diesen Ansichten und Taten zustimmen, wenn sie sich nicht explizit distanzieren. Das Gegenteil wird hoffentlich in unseren westlichen Gesellschaften der Fall sein, auch weil die überwiegende Mehrheit der Muslime nur über eklektisches Wissen über den Koran und die Sunna resp. Hadithen vefügen wird – das Gros der Muslime wird weder den Koran einerseits und insb. die Hadithe andererseits (in Gänze) gelesen haben, noch über Kenntnisse bzgl. der Geschichte des Islams verfügen, die über revisionistisch-rudimentäre Verklärungen hinausgehen, sondern bspw. via familiärer Tradierung, Koranschulen und durch muslimische Geistliche selektiv, oftmals dekontextualisierend und euphemistisch/apologetisch etc. mit den fundamentalen Inhalten ihres Glaubens und den Taten, Charakteristika etc. der Akteure des Korans konfrontiert. Das ist kein exklusives Phänomen, das ausschl. Muslimen vorbehalten wäre, sondern trifft das Gros aller Gläubigen: Auch der normale Katholik weiß wohl ad hoc kaum, was Transsubstantiation sein soll und dass er (infolge des sog. Tridentinums) zwingend daran glauben muss, um überhaupt Katholik zu sein.

Insofern sind „Freizeitmuslime“ und „Freizeitchristen“ auch eigtl. das Maximum, was ein pluraler, freiheitlich-demorkatischer Rechtsstaat tolerieren kann. Aber wir sollten uns gleichzeitig auch maximal davor hüten, so einen uninformierten Unsinn zu erzählen, wie Annalena Baerbock, dass das, was was Mullah-Regime im Iran ausmacht, „[…] nichts, aber auch gar nichts mit Religion oder Kultur zu tun“ habe.

Gelbe Tulpe
1 Jahr zuvor
Antwortet  PaPo

Besser kann man es nicht ausdrücken.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  PaPo

Zustimmung, aber Sie überfordern mit Ihren Ausführungen intellektuell nicht nur die Redaktion, sondern auch andere hier. Gerade beim Islam herrscht (gerade in Kreisen von Grünen-Politikerinnen) die Naivität vor, es könne einen liberalen, grundgesetztreuen, sozusagen „hausgemachten deutschen“ Islam geben, der dann ganz wunderbar zu Deutschland passt und gehört.
Was Katholizismus ist, bestimmt nicht unsere Regierung oder die Redaktion hier, sondern der Papst, und was Islam ist, bestimmt auch nicht unsere Regierung oder die Redaktion hier, sondern das bestimmen die islamischen Autoritäten, sog. „Islamgelehrte“. Und die sind weltweit meist sehr konservativ und halten z.B. an der Todesstrafe für Apostasie (Abfall vom Glauben) und offenbar auch für Homosexualität fest.
Und wenn im Koran steht „ihr Gläubigen, nehmt euch nicht die Juden und Christen zu Freunden“, dann denken die nicht, das war eine Äußerung im Zeitgeist in einer bestimmten Situation, sondern dann nehmen die das wörtlich in alle Ewigkeit als einen Befehl ihres Gottes. Und wer da widerspricht, der lebt gefährlich. Auch Islamreformer leben gefährlich.

Fr.M.
1 Jahr zuvor
Antwortet  Carsten60

…einige müssen sogar mit eingeschräkter Bewegungsfreiheit leben und ständigem Personenschutz. Anders geht es nicht mehr, wenn ihre Sicherheit einigermaßen gewährleistet sein soll.

Ron
1 Jahr zuvor

Bildung und das Erleben des Anderen helfen immer, Ressantiments zu hinterfragen. Eine Überfremdung in einzelnen Stadtgebieten und Regionen bringt dieses Korrektiv aber leicht zum Kippen. Wenn das Fremde zum dominierenden Faktor wird, verlieren ausgleichenden Prozesse ihre Präsenz, werden mitgebrachte Vorurteile konserviert oder sogar verstärkt. So erinnere ich mich an Untersuchungen über ehemalige Gastarbeiter, die nach einer Generation in Deutschland teils tradiertere Wertbegriffe pflegten, als ihre Landsleute in den ursprünglichen Heimatländern sie zum gleichen Zeitpunkt noch hatten.

Alla
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

Wie weit das gehen kann, zeigt sich an den Amish in den USA. Dabei scheint es besonders hilfreich zu sein, wenn sich die Tradition auf die Religion stützt.