BONN. Wie viel Freiheit brauchen Schulen? In Italien bietet seit über 20 Jahren ein Schulautonomiegesetz den Schulen weitreichende Gestaltungsspielräume. Doch was bedeutet das für die Qualität der Bildung – und was kann Deutschland davon lernen? Darüber spricht Moderator Andreas Bursche im Podcast „Bildung, bitte!“ mit Josef Watschinger, ehemaliger Schulleiter aus Südtirol und einer der Wegbereiter des Schulautonomie-Gesetzes, und Silvia Mehlich, Mitglied im Bürgerrat Bildung und Lernen.

Seit dem Jahr 2000 gibt es in Italien das Schulautonomiegesetz. Es ermöglicht den Schulen, ihren Bedarfen entsprechend zu entscheiden, welche pädagogischen Konzepte sie verfolgen, welche Formate sie nutzen, um Kompetenzen zu vermitteln, und wie sie ihre Verwaltung und Finanzen organisieren. Für Josef Watschinger, damals noch im Schuldienst tätig, war das ein ganz großer Wurf. Plötzlich seien Freiräume da gewesen, um Schule selbst gestalten zu können.
„Ich fände es schon gut, wenn es diesen Reset geben würde“
Dass auch Deutschland Schule noch einmal neu denkt, wünscht sich Bürgerratsmitglied Sylvia Mehlich. „Ich fände es schon gut, wenn es diesen Reset geben würde“, sagt die Mutter von drei Kindern, zwei mit Dyskalkulie. Gemeinsam mit mehr als 700 Menschen erarbeitet sie als Mitglied im Bürgerrat Bildung und Lernen der Montag Stiftung Denkwerkstatt Empfehlungen für die Politik, wie sich Bildung in Deutschland verbessern lässt.
Mehlich hat als Mutter von Kindern mit Rechenstörung die Erfahrung gemacht, dass sich das derzeitige Schulsystem nicht für alle eignet – und wirft die Frage auf: „Wie kann das sein?“ Nur der Wechsel auf eine Privatschule im Nachbarort habe die Situation ihres Kindes verbessern können. „Das System war da ein ganz anderes. Also da wurde Mathematik beigebracht, nicht frontal an der Tafel, sondern anhand von Beispielen.“ Ein Erlebnis ist ihr besonders in Erinnerung geblieben: Als die Klasse im Mathematikunterricht in den Tausenderzahlenraum eingestiegen seien, haben die Schüler ein großes Fußballstadion gebaut, um die Menge greifbarer zu machen. Für manche Kinder müsse der Unterricht einfach anschaulicher sein, so Mehlich.
„Ein Autonomiegesetz allein verändert Schule noch nicht“
Eine Möglichkeit, solche neuen Lösungswege zu entdecken, sei mehr Autonomie für Schulen, so die Erfahrung Josef Watschingers mit dem Schulautonomiegesetz. „Wir haben die Möglichkeit, dass sich Schulen miteinander vernetzen und gemeinsam versuchen, die Aufgaben in den Griff zu bekommen, die anstehen. Und das ist wesentlich einfacher, als wenn es jede Schule selbst tun muss.“
So sei beispielsweise ein neues Format für Schüler*innen entstanden, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen. „Wir haben mittlerweile einen alten Bauernhof hergerichtet, einen externen Lernort, an dem Kinder und Jugendliche […] einmal eine andere Tätigkeit verrichten können, die ihnen vielleicht hilft, wieder auf den Weg des Lernens zu kommen.“ Watschinger zeigt sich überzeugt: mehr Autonomie für Schulen könne sich positiv auf die Chancengerechtigkeit von Schüler*innen auswirken. Dem stimmt auch Bürgerrätin Mehlich zu. Schulen bräuchten aus ihrer Sicht mehr Freiheiten, um auf die unterschiedlichen Lernbedürfnisse der Kinder eingehen zu können.
Allerdings: „Ein Autonomiegesetz allein verändert Schule noch nicht“, gibt der ehemalige Schulleiter Watschinger zu bedenken. Das lasse sich an den Schulen in Italien erkennen, die sich – trotz der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten – nicht bewegen. Entwicklungen seien nur möglich, wenn sie von innen kommen: „Schulen müssen sich aus sich heraus gestalten.“ Es gehe darum, die Freiheit zu nutzen und Verantwortung zu übernehmen, für die Schulen, bestehende Herausforderungen und mögliche Lösungen. Dabei sei auch die Haltung der Lehrkräfte entscheidend.
Große Unterschiede zwischen Deutschland und Italien
Vor diesem Hintergrund verweist Watschinger auf zwei erhebliche Unterschiede zwischen dem Bildungssystem in Deutschland und Italien: So existiert in Italien schon seit vielen Jahren ein inklusives Schulsystem, in dem alle Kinder unabhängig von ihren individuellen Entwicklungsständen gemeinsam lernen. Die Schule sei dafür verantwortlich, den Schüler*innen die nötige Unterstützung zu bieten, um ihre nächsten Entwicklungsschritte zu gehen, so Watschinger. In der Praxis dürften Schüler*innen mit Legasthenie beispielsweise ihre Arbeiten auf einem Laptop mit Rechtschreibhilfe schreiben. Darüber hinaus benennt er auch die frühe Selektion der Kinder in Deutschland nach der vierten Klasse „als ein großes Problem“. Italien setze auf eine Schule für alle bis Klasse 8, danach dürfen die Schüler*innen entscheiden, auf welche weiterführende Schule sie wechseln wollen.
Provokant danach gefragt, warum Deutschland sein Schulsystem überhaupt verändern sollte, es habe doch jahrzehntelang gut funktioniert, erwidert Watschinger: „Wir sehen nicht, dass es auch ein Teil von Bildung sein müsste, dass Schulen sich bewegen müssen, weil sich die Welt rundherum verändert, es neue Bedürfnisse und Bedarfe gibt. Wir müssen heute umdenken und Schüler und Schülerinnen möglichst früh an den großen Herausforderungen beteiligen, die wir zu bewältigen haben.“ News4teachers
Der Bürgerrat Bildung und Lernen besteht aus mehr als 700 zufällig ausgelosten Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland und wurde 2020 von der Montag Stiftung Denkwerkstatt ins Leben gerufen. Sie hat auch den vorliegenden Podcast bereitgestellt.
Im Sinne einer lebendigen Demokratie diskutieren die Mitglieder des Bürgerrats gemeinsam über gesellschaftliche und bildungspolitische Fragen. Welche Probleme und Herausforderungen müssen im Bildungsbereich dringend bearbeitet werden? Wie könnten bildungspolitische Reformen aussehen, die Probleme lösen und gleichzeitig in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind? Und: Wie soll gerechte Bildung in Zukunft aussehen?
Ein umfassendes Papier mit Empfehlungen wurde unlängst erarbeitet (News4teachers berichtete). Leitthema dabei: „Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?“
Der Bürgerrat Bildung und Lernen ist aktuell der einzige Bürgerrat, der auf Bundesebene aktiv ist und auch Kinder und Jugendliche einbezieht. Die mehr als 250 Schülerinnen und Schüler kommen über sogenannte Schulwerkstätten der Bundesländer dazu und sind vollwertige Mitglieder des Bürgerrats Bildung Lernen. Darüber hinaus haben sie aber auch eigene Empfehlungen entwickelt sowie einen offenen Brief unter dem Titel „Hört und zu!“ geschrieben.
Hier geht es zu weiteren Folgen der News4teachers-Podcasts:
Den Podcast finden Sie auch auf
Die Aussage, dass z.B. Gymnasiasten nur 1–2 Stunden am Tag lernen sollten, klingt schön, ist aber in der Realität oft völlig unrealistisch.
Die Idee stammt aus alten pädagogischen Empfehlungen, die davon ausgingen, dass:
Schüler während des Unterrichts den Stoff aktiv mitlernen,
Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen in kleinen Portionen machbar sind,
Kinder und Jugendliche genug Freizeit zur Erholung brauchen (was absolut richtig ist!)
Diese “Faustregel” war ursprünglich als grobe Orientierung gedacht – nicht als feste Grenze.
Viele Fächer sind viel komplexer geworden (z. B. Informatik, Biologie, Latein) – gleichzeitig bleibt weniger Zeit, um Inhalte gründlich im Unterricht zu erarbeiten.
Die meisten Prüfungen bestehen heute nicht mehr aus dem, was direkt geübt wurde, sondern aus neuen, komplexen Aufgaben, für die man Verständnis + Anwendung braucht.
Schüler schreiben jede Woche Tests, Exen, Schulaufgaben, machen Projekte, Präsentationen, führen Portfolio-Arbeiten, usw. – das sprengt den Rahmen von 2 Stunden täglich, vor allem in höheren Klassen.
Vieles, was früher im Unterricht geübt wurde, wird heute in die Hausarbeit verschoben – z. B. Übungen, Zusammenfassungen, Lernstrategien.
Je nach Schulart, Klasse und Leistungsniveau verbringen viele Schüler am Gymnasium 5–6 Stunden täglich oder mehr mit:
Lesen und Verstehen
Lernen und Wiederholen
Aufgaben lösen
Präsentationen und Projekten
Nacharbeit von Stoff, der im Unterricht zu schnell ging
Und das alles neben dem Unterricht, der schon 6–8 Stunden täglich dauert.
Die Behauptung „2 Stunden lernen reicht“ ist in vielen Fällen veraltet oder weltfremd. Sie ignoriert die Realität an vielen Gymnasien – besonders in Bundesländern wie Bayern mit hohem Leistungsdruck.
Statt unrealistische Vorgaben zu verbreiten, bräuchte es ehrliche Gespräche über Entlastung, Struktur, Zeitmanagement und individuelle Förderung.
Sorry Herr Söder, aber Kids haben recht.
Der Unterricht kann dem überladenen Stoff nicht mehr gerecht werden – stattdessen wird die gesamte Last auf die Kinder und das Elternhaus abgewälzt.
Es ist nicht in Ordnung, dass heute noch unterrichtet wird wie vor 30 Jahren, während die Anforderungen doppelt so hoch sind wie damals.
Da liegt der Fehler im System.
Die Schule sollte grundsätzlich für alle machbar sein – oder besser gesagt: sie müsste es sein.
In den letzten zehn Jahren sind so viele junge Menschen durch unser Haus gegangen, dass ich sie kaum zählen kann.
Da wir eine sehr offene und zugängliche Familie sind, kommen die Jugendlichen gern mit uns ins Gespräch – oft saßen wir bis spät in die Nacht am Tisch, bei Pizza und guten Gesprächen.
Ich habe noch kein einziges Kind getroffen, das dumm, unfähig, faul oder desinteressiert an Schule und der Welt wäre.
Selbst Kinder mit kognitiven Einschränkungen, mit Asperger oder im Autismus-Spektrum, zeigen einen erstaunlichen Grad an Neugier und besondere Fähigkeiten.
Doch klar – wenn Schule nur noch Maschinen produzieren will, die auf Knopfdruck funktionieren, dann ist es kein Wunder, dass sich die Jugendlichen von heute – denen die Welt offensteht und die Zugang zu sämtlichem Wissen haben – gegen diese Dogmatisierung auflehnen.
Die Kinder und Jugendlichen von heute wachsen in einer Welt auf, die sich rasant verändert. Digitalisierung, Globalisierung und gesellschaftlicher Wandel haben das Leben grundlegend transformiert. Doch das Schulsystem in Deutschland scheint vielerorts noch in einem anderen Zeitalter verhaftet zu sein. Zwischen starren Strukturen, überholten Lehrplänen und zunehmendem Leistungsdruck stellt sich die Frage: Ist unser Bildungssystem den Kindern von heute überhaupt noch gerecht?
Kinder und Jugendliche sind neugierig, kreativ, kritisch, vernetzt. Sie wünschen sich Sinnhaftigkeit, Teilhabe und Raum für Individualität. Doch die Schule bietet ihnen oft das Gegenteil: Stoffdruck, Notenfixierung. Viele Lehrpläne orientieren sich noch immer an einem Bild des Schülers als passiven Wissensempfänger.
Dabei zeigen unzählige Studien: Kinder sind keine Maschinen. Sie lernen nicht alle gleich, nicht im selben Tempo, nicht auf dieselbe Weise. Und doch werden sie oft behandelt, als wäre das der Fall. Differenzierung ist gewünscht, aber in Klassen mit 30 Schülerinnen und Schülern kaum umsetzbar.
Hinzu kommt der wachsende Druck. Immer mehr Stoff in immer weniger Zeit. Lehrkräfte berichten, dass der gesamte Jahresplan durchgezogen werden muss, unabhängig vom Leistungsstand der Klasse. Zeit für Üben, Wiederholen oder Vertiefen fehlt oft. Die Folge: Hausaufgaben, Nachhilfe, Lernen bis spät in die Nacht – auch in der Mittelstufe.
Viele Kinder reagieren mit Stress, Schlafproblemen, Antriebslosigkeit oder gar Schulangst. Burn-out bei Jugendlichen ist längst keine Seltenheit mehr. Statt Bildung fördert das System vor allem Anpassung.
Ein weiterer Trend: Immer mehr Verantwortung wird in die Familien verlagert. Eltern sollen erklären, üben, betreuen. Wer selbst über Bildung, Zeit und Ressourcen verfügt, kann das leisten. Doch was ist mit den anderen? Bildungschancen werden so zur sozialen Frage.
Es ist Zeit, Schule neu zu denken. Eine Schule, die Kinder in ihrer Vielfalt ernst nimmt. Die ihnen zuhört, sie einbindet, statt sie zu sortieren. Die Raum gibt für Kreativität, für selbstständiges Denken, für Fehler und echte Entwicklung.
Der Bildungsrat hat recht: Übungsphasen müssen in die Schule zurück, Hausaufgaben sollten entlastet werden. Noten allein sagen wenig aus. Projektarbeit, Teamlernen, Lebenskompetenzen – das sind Wege in die Zukunft.
Die Kinder von heute sind bereit. Sie wollen lernen, gestalten, übernehmen. Die Frage ist: Ist unsere Schule bereit für sie?
Man hat hier in Deutschland das Gefühl, dass die Kultusnmínisterien mit all ihren MBs (in Bayern) ihre Daseinsberechtigung aufrechterhalten müssen und somit nie das Zepter aus der Hand geben werden. Egal, wieviel Schmonzens von da oben kommt, sie sind und bleiben die “Erhabenen”, die Lehrkräfte sind das ausführende Fußvolk, haben ja Beamtenstatus, müssen also gehorchen.
Wie erfrischend und zielführend wäre es, wenn die Schulen mehr Freiheiten hätten. Das würde auch die unsägliche Bürokratie eindämmen. Aber oha, da würden ja wieder Bürokratenstellen wegfallen ……. Fazit: geht nicht. Es bleibt wie es ist.
Arg dünn der Artikel…..um zu verstehen, was es mit der Schulautonomie Italiens auf sich hat, welche politischen und gesellschaftlichen, didaktischen und methodischen Ziele dahinter stehen, hätte es an dieser Stelle mehr Hintergrundinformationen bedurft.
Aber das Wort Autonomie in Zusammenhang mit dem Wort Schule hört sich einfach zu nice an…..
Was Dyskalkulie damit zutun hat…..nun ja…..da wird ein riesiger Bogen geschlagen….
Zur Therapie / Vorbeugung von Lernstörungen muss man nicht gleich ein gesamtes Schulsystem über den Haufen werfen…..das geht auch eine Nummer kleiner….
Mehr Schulautonimie? Damit der Schulwechsel noch schwieriger wird?