Lehrerverbände veröffentlichen gemeinsame Erklärung zur Inklusion. Tenor: So nicht!

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MÜLHEIM AN DER RUHR. Einigkeit unter Lehrerverbänden ist selten.  In Sachen Inklusion aber steht die Lehrerschaft in Nordrhein-Westfalen geschlossen zusammen – mit scharfer Kritik an den Rahmenbedingungen. Die Landesspitzen der vier großen Organisationen GEW, VBE, Philologenverband und Verband Sonderpädagogik haben sich jetzt in Mülheim an der Ruhr getroffen und eine gemeinsame Erklärung verabschiedet. Tenor: „Qualitätssicherung und notwendige Ressourcenausstattung sind unverzichtbar für eine gelingende inklusive Schulentwicklung.“

Die an der Mülheimer Erklärung beteiligten Verbände.
Die an der Mülheimer Erklärung beteiligten Verbände.

In dem Papier, das die Landeschefs Udo Beckmann (VBE). Wolfgang Franz (Sonderpädagogik), Dorothea Schäfer (GEW) und Peter Silbernagel (Philologen) unterzeichnet haben, heißt es: „Die aktuelle bildungspolitische Entwicklung fokussiert in hohem Maße die zahlenmäßige Erhöhung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf am Unterricht der allgemeinen und berufsbildenden Schulen. Der Blick auf eine rein quantitative Erhöhung der Inklusionsquote greift zu kurz und wird den konkreten Erfordernissen nicht gerecht. Die Schülerzahlen in Förderschulen nehmen nicht im gleichen Ausmaß ab, wie die Inklusionsquote steigt. Die Schulämter verzeichnen einen deutlichen Anstieg von Verfahren nach AO-SF. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die von Schulen des Gemeinsamen Lernens kommen und zur Förderschule wechseln, steigt. Die Unzufriedenheit bei Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften aller Schulformen nimmt zu.“

„Spürbare Verschlechterung“

Weiter betonen die Lehrervertreter: „Gerade Lehrkräfte, die als Wegbereiter Gemeinsamen Lernens früh in integrativen Beschulungsmodellen gearbeitet haben, sind massiv enttäuscht von den aktuellen Entwicklungen, da sie eine spürbare Verschlechterung der Bedingungen vor Ort wahrnehmen. Teilweise ersuchen sie um einen Wechsel an Förderschulen.“

Um gegenzusteuern, seien unter anderem folgende Schritte notwendig:

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  • „Jede Schule, die als Ort des Gemeinsamen Lernens ausgewiesen ist, muss die notwendigen personellen Ressourcen erhalten, um ein fachlich und kriterial abgestimmtes überprüfbares Konzept lernbegleitender Diagnostik, individueller Leistungsbeurteilung und spezifischer Förderung entwickeln zu können.“
  • „Zusätzliche Aufgaben müssen mit hinreichenden Zeitressourcen hinterlegt werden.“
  • „Auf die Übergänge der unterschiedlichen Schulstufen wird besonderer Wert gelegt, da dieser Punkt entscheidend für gelingende Bildungswege ist.“
  • „Schulen benötigen eine zentrale Anlaufstelle, um im Bedarfsfall direkte Unterstützung  zu erhalten.“
  • „Es ist sicherzustellen, dass strukturierte Fortbildungen konsequent den Schulentwicklungsprozess sowohl auf Seiten des Kollegiums wie auch von Schulleitung vor Ort längerfristig begleiten. Die Nachhaltigkeit der durch
  • Fortbildungen initiierten Schul- und Unterrichtsentwicklung ist durch an Standards orientierten, von hoher Fachlichkeit gekennzeichnete Prozessbegleitung und -evaluation sicherzustellen.“
  • „Die universitäre Lehrerbildung wird auf diesen Aspekt des Lehrerberufs verpflichtet.“

„Es bleibt dabei. Die Schulen brauchen mehr Lehrerstellen für die sonderpädagogische Förderung, kleinere Klassen, ein erweitertes Angebot für Fortbildungen und Supervision und mehr und bessere Räumlichkeiten für ein differenziertes pädagogisches Arbeiten. Nur so können die Qualität des gemeinsamen Lernens und die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte verbessert werden“, forderte Dorothea Schäfer, Landesvorsitzende der GEW, in einer Presseerklärung. Die GEW fordere seit Beginn des Inklusionsprozesses eine verlässliche Doppelbesetzung aus Regelschul- und Förderschullehrkraft für die Klassen des gemeinsamen Lernens. Keine Klasse soll mehr als 20 Schüler umfassen, davon maximal fünf mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf.

„Dass die Lehrergewerkschaft VBE gemeinsam mit anderen Lehrerorganisationen in der Mülheimer Erklärung erneut die Unzufriedenheit über den schulischen Inklusionsprozess dokumentiert, sollte die Politik mehr als nachdenklich machen“, erklärte VBE-Chef Udo Beckmann. Einmal mehr werde deutlich, was die von seinem Verband vor zwei Wochen veröffentlichte repräsentative Lehrerbefragung zur inklusiven Beschulung offengelegt hatte. „Die Note mangelhaft, die die Lehrkräfte in der Umfrage der Landesregierung für die personelle Ausstattung und das bisherige Fortbildungsangebot gegeben haben, bedarf keines weiteren Kommentars,“ so Beckmann.

Der VBE bleibe daher bei seinen Forderungen:

  • Sicherstellung einer weitgehenden Doppelbesetzung aus Sonderpädagoge und Regelschullehrkraft in inklusiven Lerngruppen (+7000 Stellen).
  •  Qualitative und quantitative Verbesserung des Fortbildungsangebots.
  • Deutlich kleinere Lerngruppen.
  • Hinreichend Zeit zur Vorbereitung auf das Arbeiten in inklusiven Klassen und Zeitressourcen für die Arbeit im Klassenteam.
  • Bereitstellung der räumlichen und sächlichen Voraussetzung durch die Schulträger.

Hier geht es zur Mülheimer Erklärung.

 

 

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5 Kommentare
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Martin Cuno
7 Jahre zuvor

Traurig, dass die wichtigste Forderung fehlt:

„Schluss mit der ideologischen Zwangsbeglückung. Die ‚eine Schule für alle‘ ist NICHT das einzigmögliche pädagogische Modell zur Verwirklichung der Ziele der UN-BRK. Förderschulen sind sehr wohl dazu geeignet, den menschenrechtlichen Anspruch auf Bildung eines Kindes nach Art. 24 UN-BRK vollgültig zu erfüllen und das Gefühl gesellschaftlicher Zugehörigkeit konkret erlebbar zu machen. Es gibt keine menschenrechtliche Präferenz für ‚inklusive‘ Schulen, gegen Förderschulen. Die Entscheidung, welche Schule für ein konkretes Kind passend ist, muss bei den Eltern liegen.“

Ich finde es schlimm, dass vier Lehrerverbände sich zusammentun und diese Forderung NICHT erheben. Warum ich das schlimm finde? Weil ich an der Basis mit vielen LehrerInnen zu tun habe und mir absolut sicher bin, dass dort, an der Basis, die oben genannte Forderung absolut mehrheitsfähig ist.

Es ist ein Elend, dass die Verbände das „Problem“ allein auf die Ressourcenabstellung schieben. Schon jetzt werden in NRW, entgegen der Verlautbarung der Ministerin „Die Ressourcen folgen dem Elternwillen“, die „inklusiv“ arbeitenden Schulen gegenüber den Förderschulen vollkommen ungerechtfertigt deutlich bevorzugt (Stichwort „Doppelzählung“). An der Basis wird dagegen wird selbstverständlich gewusst und kommuniziert, das Ressourcen längst nicht alles sind – sondern dass bestimmte Kinder bestimmte verlässliche Umgebungen brauchen.

Den Lehrerverbänden sei empfohlen, sich mit seinen Mitgliedern um das Thema „Remonstration“ zu kümmern. Das ist die beamtenrechtlich verbriefte Möglichkeit und sogar Pflicht, Anordnungen „irrender Obrigkeiten“ zu hinterfragen, wenn die Rechtmäßigkeit dieser Anordnungen in Frage steht. Hat ein Lehrer den Eindruck, dass die Erfüllung des gesetzlichen Bildungsauftrages der Schule, der ihm mit einer bestimmten Klasse übertragen worden ist, nicht möglich ist, so hat er die Pflicht, dies auf dem Dienstweg klären lassen.

Ideologien funktionieren vielleicht nur mit einem abgehobenen Funktionärswesen, welches sich an der Verschleierung der Realität beteiligt.

Pälzer
7 Jahre zuvor
Antwortet  Martin Cuno

Ich finde diese Herangehensweise, bei der ein Konsens der sehr unterschiedlichen Verbände hergestellt wird, gut. Wenn die wahren Kosten der Inklusion benannt werden, klärt sich vieles.

mehrnachdenken
7 Jahre zuvor
Antwortet  Martin Cuno

@M. Cuno
Ich teile Ihren Kommentar in allen Punkten.
Was erwarten Sie? Mit der Wahrheit können Sie auch beim Thema „Inklusion“ kaum punkten.

xxx
7 Jahre zuvor
Antwortet  mehrnachdenken

richtig. nicht umsonst wird Inklusion mit freundlich schauenden Trisomie 21 Fällen und barrierefreiem Ausbau der Schulen beworben. in großen Gruppen (ab 10 Personen …) zu Gewalt neigende hyperaktive Epileptiker gibt es nicht … offiziell.

Yyy
7 Jahre zuvor

Warum muss die Inklusion in Schulen überhaupt in diese Richtung verlaufen. Warum nicht genau anders herum?? Ein zb Sozialfach oder soziales Jahr für ‚gesunde‘ Jugendliche würde meiner Meinung nach viel viel mehr bewirken. Langjährige Beobachtung von Zivildienstleistenden, die sich teilweise in ihrem Charakter um 180 Grad gedreht haben, zeigen schon lange, dass es anders herum funktionieren kann. Aber was tut man statt dessen? – den Zivildienst ganz abschaffen! . Eine Super Entwicklung…!!!