TÜBINGEN. Lesen auf Papier oder digital am Bildschirm? Mehr als 130 Forscher weisen in einer gemeinsamen Erklärung darauf hin, dass die Frage, was besser ist, nicht pauschal zu beantworten ist.
Der Digitalpakt Schule rollt an begleitet von der latenten Erwartung, der kommende Geldschub könne dazu beitragen, Schulen in die Zukunft – oder zumindest die Gegenwart – zu katapultieren. Auf welche Zukunft die Schulen ihre Schützlinge eigentlich vorbereiten müssen, ist allerdings kaum absehbar. Die Digitalisierung entwickelt sich mit geschichtlich beispielloser Rasanz. Auch seriöse Prognosen stehen auf schwankenden Fundamenten.
Im Hinblick auf die Gesellschaft und die Individuen wird der Blick in die Zukunft zusätzlich durch die Struktur des politischen und medialen Diskurses erschwert. Utopisten und Dystopisten scheinen sich unversöhnlich gegenüber zu stehen. Einem differenzierten Blick Gehör zu verschaffen, ist schwierig, wie nicht zuletzt die Diskussion um die Feinstaubgrenzwerte gezeigt hat.
Eine auf die Zukunft gerichtete Institution wie die Schule muss sich auch in dieser Situation mit grundsätzlichen Fragen auseinandersetzen – etwa beim Lesen: Was macht die zunehmende Zahl digitaler Angebote mit den Lesern? Wie sollen Kinder heute lesen lernen? Haben gedruckte Medien auf Papier wirklich bald ausgedient? Fragen, die in Deutschland durch den Digitalpakt nur nocheinmal aktualisiert worden sind und mit denen sich seit vier Jahren auch über 100 Wissenschaftler beschäftigen, die sich im europäischen Netzwerk E-Read (Evolution of Reading in the Age of Digitisation) zusammengeschlossen haben. In der so genannten Stavanger-Erklärung, die mehr als 130 von ihnen unterzeichnet haben, fassen sie die Erkenntnisse ihrer Arbeit zusammen.
Die Tübinger Psychologin Yvonne Kammerer hat die Erklärung mitunterschrieben. „Für das Verstehen und Erinnern von langen Sachtexten macht es schon einen Unterschied, ob sie gedruckt, oder am Bildschirm gelesen werden“, hebt sie hervor. Beim Lesen von langen Informationstexten sei das Papier dem Bildschirm überlegen, wie Studien belegten, die Erinnerungsleistung und Textverständnis von Probanden gemessen hätten. Dies gelte vor allem unter Zeitdruck.
Beim Lesen narrativer Texte hingegen scheint es keinen Unterschied zu machen, welches Medium zur Lektüre genutzt wird. „Wenn wir wissen wollen, welches Medium vorteilhaft für die Leserinnen und Leser ist, müssen wir immer die Randbedingungen anschauen, also zum Beispiel die Länge und Art der Leseaufgabe und die konkrete Gestaltung eines Texts“, so Kammerer
Bei narrativen Texten müsse man weniger Wort für Wort verstehen. Es gehe darum, die Geschichte nachzuvollziehen. „Solche Texte werden normalerweise auch nicht am PC gelesen, sondern gemütlich auf dem Sofa am E-Reader.“
In der Entwicklung der handlichen Geräte wie Tablets und E-Reader sieht Kammerer einen Vorteil für das Lesen: „Wir können Dinge antippen, zoomen und verschieben. Das spielt möglicherweise eine Rolle beim Leseverständnis. Ein Buch lässt sich vor- und zurückblättern und man hat die Seiten in der Hand. Diese haptische Orientierung ist am Bildschirm ohne Touchfunktion schwieriger. Vor allem bei langen Texten, bei denen man viel scrollen muss, ist das ein Problem.“
Wenn die digitale Aufbereitung und Präsentation von Texten genau auf die Vorlieben und Bedürfnisse eines Nutzers zugeschnitten ist, könne das Verständnis sogar profitieren. Ist das nicht der Fall, überschätzten die meisten Leser hingegen das eigene Textverständnis. Grundsätzlich werden Texte am Bildschirm flüchtiger gelesen. Bildschirmleser neigten dazu, oberflächlicher und schneller zu lesen und Internet-Texte eher zu scannen, mithin zu „überfliegen“, anstatt Zeile für Zeile linear zu lesen. „Das hat beispielsweise etwas mit der Fülle an Informationen zu tun, die im Internet zur Verfügung stehen“, sagt Yvonne Kammerer. Wohl noch nie wurde so viel gelesen wie heute, noch nie waren Texte so schnell verfügbar.
Über das bewusste Leseverständnis hinaus wiesen die Studienergebnisse der Forscher darauf hin, dass das Lesen von Texten angemessener Länge und Schwierigkeit bei Schülern dazu beitragen könne Eigenschaften wie Konzentrationsfähigkeit, Geduld und Disziplin zu festigen. Darüber hinaus liefere das Lesen emotionale und ästhetische Erfahrungen und verbessere sprachliche Fähigkeiten. Beim überfliegenden Scannen von Texten würden solche Effekte allerdings nicht auftreten.
Für Yvonne Kammerer ist daher vor allem eines wichtig, egal, ob ein Text am Bildschirm, am Tablet oder auf Papier vorliege: „Wir müssen Lesen üben und effektive Lesestrategien vermitteln.“ Das gilt auch für die sogenannten Digital Natives. Entgegen der Erwartungen über deren Verhalten hätten nämlich die nachteiligen Effekte des Bildschirmlesens gegenüber dem Papierlesen insgesamt eher noch zugenommen, unabhängig von Altersgruppe und Vorerfahrungen mit digitalen Lebenswelten.
Insgesamt plädieren die Unterzeichner der Stavanger Erklärung für Vorsicht bei der Einführung digitaler Technologien in der Bildung. In der heutigen hybriden Leseumgebung böten gedruckte wie digitale Medien unterschiedliche Vorteile. Für Lehrer gelte es, genau zu überlegen, welche Medien für welchen Einsatzzweck geeignet sind und ihren Schülern ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, wann sie besser zum Buch und wann zum Tablet oder Smartphone greifen.
Die Verantwortlichen müssten sich bewusst sein, dass der schnelle und wahllose Austausch von Druckmedien, Papier und Bleistift nicht wirkungsneutral sei. Würde die Digitalisierung in der Schule nicht von sorgfältig entwickelten Lerntools und Lernstrategien begleitet, könnte die Digitalisierung der Schulen vielmehr einen Rückschlag für die Lesefähigkeiten von Schülern und ihre Fähigkeit zum kritischen Denken mit sich bringen. Informations- und Medienkompetenzen müssten auch nach Yvonne Kammerers Ansicht weiter gezielt geschult werden, denn, so die Psychologin: „gerade am kritisch-reflektierten Umgang fehlt es oft: Informationen vergleichen, bewerten und verständnisorientiert lesen.“ (zab, pm)
• Die Stavanger-Erklärung im Wortlaut (engl.)
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