Bringt die Digitalisierung das Aus für die Brailleschrift?

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HEIDELBERG. Blinde und sehbehinderte Menschen haben in etwa die gleichen Rechtschreibkompetenzen wie Menschen ohne Beeinträchtigungen. Darum hat sich nicht zuletzt der Franzose Louis Braille Verdienste erworben. Wie es um die Brailleschrift in Zeiten der zunehmenden Digitalisierung steht, und was das für den Unterricht bedeutet, haben Wissenschaftler aus Heidelberg und Zürich untersucht.

Längst nicht alle Menschen begrüßen rundheraus die Verheißungen der Digitalisierung. Hinsichtlich der Inklusion blinder und sehbehinderter Menschen allerdings, haben viele Menschen große Erwartungen. Neue Assistenztechniken wie die Sprachausgabe von Texten an Computern und Handys sind mittlerweile eine Selbstverständlichkeit.

Seit nahezu 200 Jahren garantiert die aus tastbaren Punkten bestehende Brailleschrift Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung den Zugang zu schriftlicher Information. Erst das ermöglicht ihnen überhaupt Bildung und Ausbildung, denn Lesen und Schreiben sind unhintergehbare Fähigkeiten, die von klein auf gelernt und ein Leben lang angewendet werden, um Ausbildung, Beruf und gesellschaftliche Teilhabe zu verwirklichen.

Auch in Zukunft bleibt die Brailleschrift wohl erst einmal grundlegend für Bildung und Integration. Foto: antonioxalonso / flickr (CC BY 2.0)

Im Zuge zunehmender Digitalisierung stehen sogenannte assistive Technologien wie die Sprachausgabe bei Computern und Smartphones der Brailleschrift zur Seite. Der auditive Informationszugang, also derjenige über das Anhören von Texten, erscheint im Vergleich zum Lesen schneller zu erfolgen und weniger Übungsaufwand zu erfordern. Wie wird Braille unter diesen Vorzeichen heute erlernt und genutzt? Lösen die assistiven Technologien die Blindenschrift zunehmend ab? Und wie ist es um die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten der Braillenutzer bestellt?

Solche und ähnliche Fragen standen im Mittelpunkt des Projekts „Zukunft der Brailleschrift“, der pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Züricher Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. Über drei Jahre hinweg befragten Teams um Markus Lang und Ursula Hofer Braillenutzer in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mittels standardisierter Tests erfassten sie außerdem die Lese- und Hörkompetenzen ihrer Probanden, sowie deren Rechtschreibfähigkeiten.

Trotz des Vordringens digitaler Medien kommt der traditionellen Blindenschrift für die gesellschaftliche Integration von blinden und sehbehinderten Menschen nach wie vor eine wesentliche Bedeutung zu, so das wesentliche Ergebnis der Studie. Textzugänge über assistive Technologien könnten die Brailleschrift in Papierform zwar sinnvoll ergänzen, vollständig ersetzen könnten sie die Punktschrift aber nicht.

Tendenziell schätzten die jüngsten Teilnehmer der Befragung (bis zum Alter von 22 Jahren) die Bedeutung der Brailleschrift etwas geringer ein, als die älteren. Dies könne als Indiz dafür interpretiert werden, dass sich diese Altersgruppe in stärkerem Maße auditiven Informationszugängen zuwendet, schätzen die Wissenschaftler. Diese Interpretation unterstütze auch Der von den jungen Teilnehmern erzielte höchste Wert bei der tatsächlichen Nutzung von Sprachausgabesystemen.

Generell habe sich sich aber gezeigt, dass dem Lesen auf Papier nach wie vor eine bedeutende Rolle zukomme. So werde die Sprachausgabe oftmals in Kombination mit dem Lesen auf der Braillezeile eingesetzt, einem speziellen Computerausgabegerät, das Zeichen in Blindenschrift übersetzt. „Die Betroffenen kombinieren heute entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten und Vorlieben verschiedene Lese- und Schreibstrategien miteinander“, resümiert Markus Lang. Es sei also nicht so, dass die assistiven Technologien die Blindenschrift verdrängen – sie ergänzten einander vielmehr. „Hören wie Lesen sind zwei je verschiedene Kompetenzen, wobei die eine keinen grundsätzlichen Ersatz für die andere darstellt.“, so der Heidelberger Pädagoge. Die Vielfalt der Braillenutzung in Kombination mit assistiven Technologien lasse nach Ansicht der Forscher außerdem annehmen, dass das Ausstattungsniveau mit lese- und schreibspezifischen Hilfsmitteln in Deutschland, Österreich und in der Schweiz im Schul-, Ausbildungs- und Berufsalter hoch ist.

Braille als Vollschrift wird im Durchschnitt mit achteinhalb Jahren erlernt, ihre Computer-adaptierte Form mit knapp zehn und die Kurzschrift mit elfeinhalb Jahren. Den Erwartungen der Wissenschaftler entsprechend belegte die Studie, dass für das Lesen der Brailleschrift zwei- bis dreimal mehr Zeit benötigt wird als für das Lesen ohne Sehbeeinträchtigung. Bestätigt wurde zudem die Annahme, dass Informationen schneller durch Hören als durch Brailleschriftlesen aufgenommen werden.

Ein weiteres teilweise erwartbares Ergebnis in diesem Kontext war, dass es in allen Brailleversionen schnelle Leser gab und diese in der Regel auf Papier lasen. Die Studie habe gezeigt, dass eine früh einsetzende Brailleleseförderung die Lesegeschwindigkeiten erhöht und damit auch die Rechtschreibkompetenzen von Schülern.

Blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene wiesen grundsätzlich altersgemäße Kompetenzen in der Rechtschreibung auf. „Nicht-Sehen wirkt sich also nicht negativ auf Rechtschreibkompetenzen aus“, betonen die Forscher. Dabei sei aber auch sichtbar geworden, dass die schnellen Leser der Brailleschrift die Nase vorn haben: „Niedrige Werte in der Leseflüssigkeit und in der Lesegeschwindigkeit gehen einher mit niedrigeren Werten im Leseverstehen und in der Rechtschreibung“, erläutern Lang und Hofer. Am problematischsten seien durchgängig die Leistungen der Teilnehmenden, die dual Brailleschrift und vergrößerte Schwarzschrift nutzen. Diese Gruppe zeigte oftmals nur geringe Braille-Lesekompetenzen.

Für den Unterricht sehen Lang und Hofer einige Konsequenzen in ihren Ergebnissen. Die Nutzung der Sprachausgabe neben dem Lesen in oberen Klassenstufen sei eine schlichte Notwendigkeit zur Bewältigung des umfangreichen Unterrichtsstoffs. Der Einsatz auditiver Strategien sollte daher zielgerichtet, aufgaben- und fächerspezifisch sein. Effizientes Hören als Kompetenz sei dabei gezielt zu fördern.

Hinsichtlich des Brailleschrift-Lesens gelte, dass angemessene Maßnahmen des Nachteilsausgleichs notwendig seien. Hinzutreten sollten nach Ansicht der Forscher ein früh einsetzendes individuelles Training von Lesekompetenzen und fächerübergreifendes Unterstützen regelmäßigen Lesens. Dies gelte besonders für die „dualen“ Leser, die sowohl Brailleschrift, als auch Schwarzschrift nutzten. Für den Ausbau von Rechtschreibkompetenzen könnten zudem angemessene Kontrollmöglichkeiten des Schreibens wie etwa die gezielte Nutzung von Rechtschreibprogrammen hilfreich sein. (zab, pm)

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