KARLSRUHE. Unbemerkt von der Öffentlichkeit, die erst später davon erfuhr, fällte das höchste deutsche Gericht im Mai 1995 ein Urteil über das Kruzifix an bayerischen Schulen. Das schlug hohe Wellen in Politik und Gesellschaft. Auch heute noch gilt: Das Kreuz macht was mit uns.
Paragraf 13 Absatz 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern ist mit Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar und nichtig. Mit diesem Satz löste das Bundesverfassungsgericht vor 25 Jahren in Bayern ein mittleres Erdbeben aus. Es ging ums Kreuz, Himmel, Herrgott, Sakrament!
Es war schon eine arge Zumutung, die Karlsruhe dem damals noch sehr viel katholischeren Freistaat auferlegte. Der rechtswidrige Satz der Schulordnung besagte, dass in jedem Volksschul-Klassenzimmer ein Kruzifix zu hängen habe. Wo, war egal. Meist hing es rechts der Tafel über dem Waschbecken, wie sich die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann, erinnert. Von da sollte es weg, nach dem Willen eines Vaters, der seinen Kindern den Anblick eines männlichen Leichnams, wie es hieß, ersparen wollte. Das Gericht sah diesen Wunsch durch die Glaubensfreiheit gedeckt.
GEW fand das Urteil damals zeitgemäß
Das Urteil vom 16. Mai 1995 wurde erst deutlich später veröffentlicht: am 10. August. Mitten in den Sommerferien. «Wir waren im Urlaub. Und da kam dieser Paukenschlag. Und das hat uns in der Tat kalt erwischt», erinnert sich der damalige Kultusminister Hans Zehetmair (CSU). Der Rage in Bayern tat das keinen Abbruch. In seltener Einigkeit kämpften Politik und Gesellschaft für das Kreuz. 700.000 Unterschriften gegen das Urteil sammelte die katholische Kirche bis Jahresende, 25.000 Menschen demonstrierten in München.
Die CSU wollte eine Änderung des Grundgesetzes prüfen, damit das Kreuz hängenbleiben konnte. Die Katholiken fühlten sich an Nazi-Zeiten erinnert. Selbst der spätere Papst Benedikt XVI. äußerte «Bestürzung». Die Grünen und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft dagegen fanden das Urteil zeitgemäß. Und das Gericht warnte vor seiner eigenen Missachtung.
«Dies war kein Glanzstück des höchsten deutschen Gerichtes», urteilt Zehetmair auch 25 Jahre später noch. Das Kreuz zu sehen sei ein Angebot gewesen, «kein Aufdringen». Schließlich änderte das Land den inkriminierten Satz und fügte eine Ausnahmeregelung hinzu, so dass sich praktisch kaum etwas änderte – wer kreuzfrei lernen oder lehren will, muss gut begründet dagegen vorgehen.
Der Gerichtsbeschluss habe «eine Welle der Empörung bis hin zu Verbitterung ausgelöst», sagte der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) seinerzeit im Landtag. «Wir in Bayern sehen unsere Identität auch in der Form des Kreuzes sinnbildhaft dargestellt, weil das Christentum das dauerhafteste und prägendste Element unserer Geschichte darstellt», betonte er.
Vom Christentum als Kulturfaktor sprach Stoiber. Eine Interpretation, die mehr als 20 Jahre später der jetzige Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit seinem sogenannten Kreuzerlass aufgriff – dem Beschluss, im Eingangsbereich sämtlicher Landesbehörden ein Kruzifix anzubringen. Dafür erntete er auch von Kirchenseite Kritik – eben weil das Kreuz als kulturelles Zeichen verwendet werden sollte.
Schul-Kruzifix kam noch mehrfach vor Gericht
Das bayerische Schul-Kruzifix kam noch mehrmals vor Gericht, so etwa 1999 vor das Bundesverwaltungsgericht und 2001 vor den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, wo ein klagender Lehrer Erfolg hatte. Mal störten sich die Gegner an der empfundenen Brutalität, sahen in dem Kreuz ein Holocaust-Symbol oder wünschten sich eine andere Darstellung – dann gab es statt des Leichnams Regenbogen und Fische. Doch das Kreuz hängt und hängt und hängt – allerdings kam es auch noch nicht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der 2009 in einem italienischen Fall die Religionsfreiheit verletzt sah. 2011 entschied die Große Kammer des EGMR dann anders.
Muss man in Zeiten, in denen es immer mehr Minderheiten gibt, mehr Toleranz üben – auch die Minderheiten? «Wir müssen heute uns davor in Acht nehmen, in der Gesellschaft in Deutschland, dass wir nicht hysterisch werden», findet Zehetmair. Lehrerpräsidentin Fleischmann sieht in dem Kreuz als Stein des Anstoßes für Diskussionen heute durchaus etwas Positives. Da gehe es «um ein Thema, das immer präsent ist: Werteerziehung». Auch über die Art der Kreuze werde viel diskutiert, über religiöse Symbole allgemein und wer sie braucht. Seit 2015 blicke man an Schulen durch die Integration von Flüchtlingen neu auf das Thema Vielfalt. Religiosität sei in vielen Familien ein Thema und bestimme den Jahreszyklus.
Spreche man kleinere Kinder auf das Thema an, seien sie sehr unverblümt: «Die glaubt was anderes, ist aber trotzdem ein liebes Mädchen», sagt Fleischmann. Kinder, die nicht dem christlichen Glauben angehören, seien oft sehr aufgeschlossen. Wenn sie gar nicht religiös seien, gebe es aber schon Nachfragen wegen des Kreuzes. «Das kann es geben, dass sie sagen: Das ist ja greislig.» Generell wollten Schüler erfahren, warum jemand anders sei, anders glaube.
Abhänge-Wünsche kämen noch ab und an vor, eine Statistik gibt es beim BLLV aber nicht. Auch dem Kultusministerium liegen keine konkreten Zahlen vor, es seien aber nur wenige Beschwerden bekanntgeworden. Meist seien Konflikte fehlender Kommunikation geschuldet, sagt Fleischmann. Man muss immer noch reden übers Kreuz. Von Martina Scheffler, dpa