„Demokratie steht auf dem Spiel“: Demokratische Bildung ist Aufgabe aller Fächer

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BERLIN. Wie entwickeln vor allem Jugendliche und junge Menschen die nötigen Fähigkeiten, um die Demokratie auch in Zukunft zu verteidigen? Diese große Aufgabe kommt vor allem den Schulen zu – indem sie Demokratiebildung im Schulprogramm fest verankern. Das Gute: Schülerinnen und Schüler sind bereit für demokratische Prozesse, wenn sie praktisch und dauerhaft erlebbar gemacht werden.

Demonstration, Demokratie, Black Lives Matter. Foto: Drazen Zigic/shutterstock
Demonstration, Demokratie, Black Lives Matter. Foto: Drazen Zigic/shutterstock

Es waren erschreckende Bilder, als Ende August während einer Demonstration von Corona-Leugnern plötzlich Rechtsradikale mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen die Treppen des Bundestags stürmten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach im Anschluss von einem „Angriff auf das Herz unserer Demokratie“. Gleichzeitig stellte er fest, dass es die Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sei, die Demokratie „aktiv, entschieden und mutig“ zu verteidigen.

Viele Male wurde die Demokratie in den vergangenen Jahren als gefährdet bezeichnet und Wilfried Schubarth, Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam, stellte enorme Demokratiedefizite bei Schülerinnen und Schülern fest, weshalb er zu Beginn des Jahres in einem Interview mit den „Potsdamer Neuen Nachrichten“ sagte: „Die Demokratie steht auf dem Spiel.“

Angesichts dieser dramatischen Schilderungen und Voraussagen, muss es vielen Lehrkräften wie eine unlösbare Mammutaufgabe vorkommen, Kindern und Jugendlichen in der Schule alle nötigen Kompetenzen mitzugeben, die sie als Bürgerinnen und Bürger brauchen, um die Gesellschaft demokratisch mitzugestalten. Doch genau diese Angst möchte der Bildungs- und Politikwissenschaftler Ulrich Ballhausen den einzelnen Lehrkräften sowie den Kollegien nehmen: „Natürlich braucht man auch einen Plan für eine umfängliche Demokratiebildung an Schulen, aber dann sollte man lieber mit kleinen Schritten anfangen, als direkt an den großen Ideen zu arbeiten und vielleicht daran zu scheitern.“ Wichtig sei jedoch bei noch so kleinen Schritten, dass Demokratiebildung stets als gesamtschulische Aufgabe betrachtet werde – nicht als isoliertes Thema für den Fachunterricht.

Inhalt und Form müssen zusammenpassen

Ulrich Ballhausen ist Experte, wenn es um die Vermittlung von Demokratiebildung geht. Er hat Lehramt studiert und im Anschluss vor allem als Bildungsreferent in der außerschulischen politischen Bildung gearbeitet. Seit 2014 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibnitz Universität Hannover. Einer seiner Schwerpunkte lautet „Qualifizierung von Fachkräften im Bereich Politische Bildung“. Das heißt, er bildet Lehramtsstudierende für das Fach Politik an Gymnasien und berufsbildenden Schulen aus und begleitet sie auch bei ihren ersten Schritten in der Schulpraxis.

Ulrich Ballhausen. Foto: Universität Hannover
Ulrich Ballhausen. Foto: Universität Hannover

Wenn er mit den angehenden Lehrerinnen und Lehrern die ersten Erfahrungen an den Schulen reflektiert, entsteht häufig dieses Bild: „Es gibt einige Schulen, die sich bereits mit größeren oder kleineren Instrumenten auf den Weg gemacht haben, aber zu viele Schulen verharren auch immer noch im klassischen Status, in dem Demokratie als Thema lediglich im Politikunterricht Platz findet.“ Das Ziel müsse es jedoch sein, dass letztendlich Inhalt und Form der demokratischen Bildung zusammenpassen. Sprich: Demokratische Bildung ist zum einen die Aufgabe aller Fächer und sollte zum anderen allgemeines Unterrichtsprinzip und darüber hinaus auch Grundlage einer demokratischen Schulentwicklung sein. „Will man Demokratiebildung als Schule wirklich angehen, darf man es nicht einzelnen, engagierten Lehrkräften überlassen, sondern die Schulleitung muss es auch zu ihrem Anliegen machen“, meint Ballhausen.

Demokratiebildung gewinnt an Bedeutung – Weiterbildungen ebenfalls

Der Politikwissenschaftler ist überzeugt, dass die Lehramtsausbildung ein wichtiger Schlüssel ist, um das Thema an Schulen langfristig stärker zu verankern. Ein anderer wichtiger Punkt sei außerdem, unterschiedliche Personen für die Notwendigkeit von Demokratiebildung zu sensibilisieren und entsprechende Inhalte zur Vertiefung zur Verfügung zu stellen. Aus diesem Grund hat er zusammen mit seinem Kollegen Steve Kenner und seinem Chef, dem Politikwissenschaftler Dirk Lange, an der Entwicklung eines MOOC zum Thema „Citizenship Education – Demokratiebildung in Schulen“ mitgearbeitet.

Dieser kostenlose Online-Kurs passt genau in die aktuelle Zeit, findet Ulrich Ballhausen. Nicht nur, dass wegen der Corona-Pandemie digitale Lehr- und Lerninhalte stärker gefragt sind. Er konnte in den vergangenen Wochen und Monaten feststellen, dass die Relevanz des Themas in der Wahrnehmung deutlich zugenommen hat: „Angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen und der Debatten in den letzten Jahren, ist die Bedeutung der Demokratiebildung immer weiter gestiegen.“ Das macht er auch daran fest, dass er in seinen Seminaren noch nie eine so hohe Teilnehmerresonanz hatte wie in diesem Jahr. Eines seiner Seminare trägt den Titel „Demokratie- und Engagementbildung in der Schule am Beispiel des MOOC Citizenship Education“. Darin benutzt Ulrich Ballhausen den kompletten Online-Kurs als Lehrgrundlage, in anderen Kursen pickt er sich auch mal nur einzelne Lektionen oder Videos heraus.

Unbegrenzt, offen, online – Demokratisierung der Bildung

„Wir haben den MOOC als eine didaktisch durchgeplante Veranstaltung angelegt. Und diese didaktische Struktur erlaubt es den Nutzern, individuell damit zu arbeiten, ihn also einfach von vorn nach hinten durchzuarbeiten oder sich auf einzelne interessante Lektionen zu konzentrieren und von Video zu Video zu springen“, erklärt Ulrich Ballhausen die Idee hinter dem Online-Kurs.

Darüber hinaus sind es fünf Aspekte, die den MOOC seiner Meinung nach für (angehende) Lehrkräfte und Interessierte anderer Institutionen so spannend machen:

  1. Der Online-Kurs vermittelt erstens wichtiges Grundlagenwissen in Form von fachwissenschaftlichen Vorträgen.
  2. Es sind Erfahrungen von Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern eingeflossen.
  3. Es gibt Praxisreportagen aus verschiedenen Schulen.
  4. Der MOOC beinhaltet eine Vielzahl von Interviews mit ausgewiesenen Expertinnen und Experten.
  5. Jede Lektion enthält einen kurzen Animationsfilm, der das jeweilige Thema kurz und verständlich zusammenfasst.

„Abhängig von der Altersstufe sind viele der Materialien auch unmittelbar im Unterricht einsetzbar, vor allem die Animationsfilme, die Reportagen oder die Interviews“, so Ballhausen. In seinen Seminaren benutzt er selbst besonders gerne die Praxisreportagen. Seine Studierenden seien immer positiv überrascht, was auch schon jüngere Kinder im Alter von acht Jahren in Bezug auf demokratische Prozesse leisten können – wenn man sie nur lässt. „Da sind die Studierenden von den Socken“, meint Ballhausen lachend.

Ideen und Erfahrungen aus der Praxis

Adrienne Körner beschäftigt sich ebenfalls seit Jahren mit der Frage, wie Demokratiebildung an Schulen umfassender etabliert werden kann. Sie ist Lehrerin in Bremerhaven, Landeskoordinatorin des Bundeswettbewerbs „Demokratisch Handeln“ sowie Fachleiterin für Bildungswissenschaften und Geschichte am Landesinstitut für Schule. Zudem ist sie ehrenamtlich in verschiedenen Kinder- und Jugendprojekten zum Thema politische Bildung aktiv. „Mich hat schon immer interessiert, wie man Menschen die Demokratie näher bringen kann“, berichtet Körner im Interview, „und in meiner jahrelangen Arbeit habe ich festgestellt, dass, egal wie alt die Schülerinnen und Schüler sind, sie sich unheimlich für das Thema Demokratie interessieren, wenn es ganz praktisch vermittelt wird.“

Adrienne Körner. Foto: Landesinstitut für Schule Bremen
Adrienne Körner. Foto: Landesinstitut für Schule Bremen

Gleichzeitig kennt sie aber die Angst einiger Lehrerinnen und Lehrer: „Der Gedanke ist häufig: Jetzt muss ich noch zusätzliche Arbeit da reinstecken.“ Deswegen verbindet sie und Ulrich Ballhausen vor allem ein Ziel: den angehenden Lehrerinnen und Lehrern klarzumachen, dass Demokratie- und Menschenrechtsbildung eine Aufgabe für die gesamte Schulgemeinschaft ist. „Man muss fächerübergreifend als Team zusammenarbeiten und im Endeffekt profitiert davon sowohl der Fachunterricht als auch der Zusammenhalt an der Schule insgesamt“, sagt Adrienne Körner. Sie hat außerdem die Erfahrung gemacht, dass Schülerinnen und Schüler von sich aus ganz viel einbringen und an kreativer Mitgestaltung interessiert sind, wenn sie dazu eingeladen und motiviert werden.

Konkrete Tipps zum Thema Demokratiebildung

Seit gut zwei Jahren nutzt Adrienne Körner in ihren Seminaren ebenfalls einzelne Inhalte des MOOCs „Citizenship Education“, wie die Grundlagen-Lektion „Die herausfordernde Zivilgesellschaft“ oder einen der thematischen Schwerpunkte, zum Beispiel „Menschenrechtsbildung“ oder „Demokratische Schulentwicklung“. Ebenso wie Ulrich Ballhausen hat auch sie die Erfahrung gemacht, dass für die Referendare vor allem die Praxisreportagen wertvolle Einblicke liefern. „Damit kann ich den angehenden Lehrerinnen und Lehrern zeigen, wie gut man demokratisches Lernen in der Schule implementieren kann – ohne dass man am Ende das Gefühl hat, immer noch etwas Zusätzliches machen zu müssen.“ Damit will sie die Referendare ermutigen, ähnliche Praxisprojekte durchzuführen, für die sie dann auch Leistungsnachweise erhalten sollen.

„Deshalb finde ich den MOOC so sinnvoll. Ich kann den Lehrkräften mitgeben, dass sie sich damit zum einen selbst fortbilden können, wenn sie das Thema interessiert. Zum anderen haben sie die Gelegenheit, praktische Ideen direkt umzusetzen und in die Schule zu tragen“, stellt Adrienne Körner fest. Denn das sei ein weiteres Ziel: Möglichst viele Kollegien dazu zu bringen – beispielsweise durch neue Impulse von außen – Demokratiebildung so zu implementieren, dass es nicht „zur Eintagsfliege wird“, sondern fest zum Schulprogramm dazugehört.

Und noch ein paar Tipps gibt die Lehrerin gerne mit auf den Weg:

  • Bei dem Thema Demokratiebildung sollte es für Schülerinnen und Schüler nicht um Stoff aus dem Lehrplan oder Noten gehen. Sie brauchen vielmehr Freiräume, damit sie aus erster Hand erfahren, warum die Demokratie eine Bedeutung für sie hat.
  • Lehrkräfte sollten nicht versuchen, Schülerinnen und Schüler zu belehren, sondern ihnen anhand konkreter Projekte und Abläufe zeigen, warum es wichtig ist, sich Wissen anzueignen, bestimmte Sachverhalte von mehreren Seiten zu betrachten und letztendlich ein eigenes Urteil zu fällen.
  • Demokratiebildung lebt – neben der Teamarbeit im Kollegium – von Kooperationspartnern und außerschulischen Lernorten. Diese sollten unbedingt mitgedacht und einbezogen werden, wenn sich eine Schule auf den Weg zur „demokratischen Schule“ macht.

Hier geht es zur Video-Playlist zum Thema „demokratische Schulentwicklung“. Hier ist ein Trailer zum MOOC zu sehen.
Hier geht es direkt zum MOOC.

Demokratiebildung: Kostenloser Online-Kurs für Lehrer
„Schule ist ein zentraler Ort, an dem junge Menschen Demokratie und Engagement lernen, erfahren und gestalten können.“ Foto: Shutterstock

Die Demokratiebildung in der Schule hat im Zuge der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen an Bedeutung gewonnen. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, sich als Part der Gesellschaft zu begreifen, der diese aktiv verändern kann. Doch wie können Lehrkräfte dies erreichen? Unterstützung bietet der kostenlose Online-Kurs „Citizenship Education – Demokratiebildung in Schulen“, den die Bertelsmann Stiftung zusammen mit dem Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz Universität Hannover entwickelt hat.

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