Forschungsprojekt: Erklärvideos für Schüler – attraktiv, aber nicht ohne Risiko („Verstehensillusion“)

3

AUGSBURG. Der Internetmarkt mit Lehrvideos auf Kanälen wie YouTube und TikTok sowie Bildungsplattformen boomt – noch mehr seit Beginn der Corona-Pandemie. Mit der Frage, was Erklärvideos zu Schulthemen so attraktiv macht und wie diese Videos qualitativ bewertbar sind, beschäftigten sich zahlreiche Forschende der Universität Augsburg aus verschiedenen Perspektiven. Die Ergebnisse liegen nun in einem Sammelband vor.

Viele Schülerinnen und Schüler nutzen Erklärvideos für die Hausaufgaben. Foto: Shutterstock

Prof. Dr. Eva Matthes, Lehrstuhlinhaberin für Pädagogik, und ihre beiden ehemaligen Mitarbeiter Stefan T. Siegel (inzwischen Universität St. Gallen) und Thomas Heiland (inzwischen Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen) erläutern die Hintergründe und Ergebnisse der Forschungen und Analysen zum Thema Lehrvideos.´

Warum nutzen Kinder und Jugendliche Lehrvideos so gern?

Stefan T. Siegel: Aktuelle repräsentative Studien zeigen, dass Kinder und Jugendliche Lehr- und Erklärvideos sowohl in formalen als auch in informellen Kontexten nutzen. Videos auf YouTube werden vorwiegend zur Unterhaltung und Entspannung genutzt, jedoch auch als allgemeine Informationsquelle, um ihr Wissen und Können auszubauen. Lehrvideos verheißen müheloses, orts- und zeitunabhängiges Lernen. Außerdem werden hier Inhalte anschaulich und kompakt vermittelt. Nicht verschwiegen werden sollte – und die fachdidaktischen Analysen in unserem Band zeigen das eindrucksvoll –, dass gerade mit Lehr- und Erklärvideos auch die Gefahr einer „Verstehensillusion“ einhergehen kann.

Seit wann gibt es diese Beliebtheit der Lehr- und Erklärvideos? Wird dieses Format weiterwachsen?

Thomas Heiland: Die Verbreitung dieser Videos nahm bereits vor der COVID-19-Pandemie zu, ihre Bedeutung und Nutzung ist aber durch die Kontaktbeschränkungen und das Distanzlernen nochmals deutlich gestiegen. Derzeit boomt der Internetmarkt mit Lehrvideos sowohl auf kommerziellen Plattformen wie YouTube und TikTok als auch auf (staatlichen und privaten) Bildungsplattformen. Es ist davon auszugehen, dass Lehrvideos neben anderen Bildungsmedien auch in Zukunft ein fester Bestandteil in der mediatisierten Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen sein werden.

Was macht ganz speziell Lehrvideos aus? Gibt es hier Systematiken? Was wissen wir über die Anbietenden dieser Bildungsmedien (bspw. Erklärvideokanäle auf YouTube)?

Eva Matthes: Bis jetzt gibt es keine einheitliche Definition oder Systematisierung von Lehrvideos. Häufig werden verschiedene Videoarten (Erklärvideos, Screencasts, Tutorials) nach bestimmten Merkmalen, wie beispielsweise Produktionsart, Inhalt oder Dauer, unterschieden. Erklärvideos haben im Vergleich zu anderen audiovisuellen Medien immer den Anspruch, einen Sachverhalt erklären zu wollen. Die Produzenten und Anbietenden von Lehrvideos sind sehr heterogen. Die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen, nimmt jedoch zu. Das ist aus unserer Sicht unverzichtbar, da das Internet ein freier und weitgehend unkontrollierter Raum ist, der allen – ob Privatperson, Unternehmen oder öffentlich-rechtlichen Einrichtungen – die Möglichkeit bietet, Videos, deren Qualität nicht zwangsläufig sichergestellt ist und sehr unterschiedlich sein kann, einer breiten Nutzerschaft anzubieten.

Woran bemisst sich die Qualität von Lehrvideos?

Stefan T. Siegel: Die Qualität von Lehrvideos kann nur unter Berücksichtigung verschiedener fachlicher Perspektiven angemessen beurteilt werden. Unser Band enthält eine Übersicht, die diese Qualitätskriterien und die damit verbundenen (multidisziplinären) Sichtweisen auf Lehrvideos bündelt. Nutzerinnen und Nutzer können die Qualität von Videos damit leichter erkennen, einordnen und beurteilen. Je nach Inhalt und Art des Videos treten manche Kategorien und Kriterien in den Vorder- und andere in den Hintergrund. Ein qualitativ hochwertiges Lehrvideo muss nicht alle, sollte jedoch idealerweise zahlreiche der Kriterien erfüllen, damit es als wertvolles Bildungsmedium beurteilt werden kann. So kann ein Video, in dem urheberrechtliche Fragen missachtet werden, dennoch von hoher pädagogisch-didaktischer Qualität sein.

Wie geht die Lehramtsausbildung der Universität Augsburg auf das Thema Lehrvideos ein?

Eva Matthes: Obgleich Lehrvideos, neben anderen Bildungsmedien, im Rahmen der Lehramtsausbildung stärker fokussiert werden sollten, ist die Beschäftigung mit diesen bis dato kein verpflichtender Bestandteil der staatlichen Lehramtsprüfungsordnung. Dennoch gibt es jedoch einige Initiativen und Lehrveranstaltungen, um die Professionalität angehender Lehrkräfte mit Umgang mit Lehrvideos zu fördern. Das geschieht zum Beispiel im Kompetenzbereich „Einsatz und Analyse von Bildungsmedien“ des Augsburger Projekts LeHet der Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Konkret geht es darum, die Potenziale und Grenzen dieser Bildungsmedien zu reflektieren und zur Analyse, Auswahl, Produktion und zum Einsatz von für schulische Zwecke geeigneten Lehrvideos zu befähigen. News4teachers

Anzeige

Publikation:

Echter Lehrer als Influencer: Kai Schmidt erklärt Schülern auf Youtube Mathematik

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

3 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Joerg
2 Jahre zuvor

Ich weiß nicht ob dieser Kommentar hier als Werbung zählt und nicht erlaubt ist, aber es gibt auch Lernvideos mit Fragen am Ende.
Wenn man bei Youtube nach „Herr Locher“ sucht, kommen solche Mathevideos, welche am Ende immer Fragen zur Überprüfung des Verständnisses haben, so dass sie gut als vorbereitende Hausaufgabe eingesetzt werden können.
Die Verstehensillusion dürfte sich somit verringern. Leider findet man das bisher kaum bei anderen Videos.

Georg
2 Jahre zuvor

Meine Rede. Daniel Jung & co sind durchaus hilfreich, dürfen aber nicht überbewertet werden.

Gabriele
2 Jahre zuvor

Ein geeignetes Lernvideo wohlüberlegt, zielgenau und passgerecht, in der Planung des Unterrichts einzusetzen, hat sicher seine Daseinsberechtigung.

Zur Wissensvermittlung, als Ergänzung und zur Weiterführung, auch zur Wiederholung und Vertiefung kann es durchaus sehr wertvolle Dienste leisten.
„Kann“ (!) – ein Lernvideo ist also nicht automatisch, per se, die bessere Wahl.

Die Attraktivität als Filmchen zur Abwechlung, auch wegen anderer technischer Möglichkeiten, bleibt jedoch unbenommen.

Der Einsatz eines Lernvideos ist aber lediglich nur eine unter einer Vielzahl von ebenso wertvollen denkbaren Methoden, nur ein Tool.

Eine weit überwiegende Zahl von SchülerInnen braucht nämlich dringend den menschlichen Kontakt, von Angesicht zu Angesicht, den persönlichen Bezug zum Lehrer/ zur Lehrerin um „bei der Stange“ zu bleiben, „nicht unter ihren/seinen Möglichkeiten zu bleiben“!

Auch die Lerngruppe, jegliche Interaktion face to face, ist essentiell für den Lernerfolg.
Soziales Lernen, Zwischenmenschliches, direkte Kommunikation haben viele sehr schmerzhaft vermisst in der Pandemie.

Während des Distanzlernens sehnten sich die SchülerInnen nach der Schule, nach ihren SchulkameradInnen – und ihren LehrerInnen – nach Präsenz (!) -unterricht.
WhatsApp- Gruppen, Lernplattformen etc. – Digitales Lernen kann da nie und nimmer mithalten, kann nur Zusatz sein.

Für LehrerInnen gilt ja stets die Maxime „Fordern und Fördern“! Im unmittelbaren Kontakt unter Einbeziehung der Lerngruppe funktioniert das natürlich auch sehr viel besser!

Die Mehrzahl der SchülerInnen lernt nur wegen extrinsischer Motivation: durch individuelle Zuwendung, persönliche Ansprache, Ermutigung, Ansporn, Wetteifern, Lob – und auch Tadel. Und natürlich wegen der Noten.

Nur die wirklich intrinsisch motivierten SchülerInnen sind am Lernstoff so stark interessiert, dass die Lehrkraft eher zweitrangig ist.

Die Lehrkraft ist entscheidend für den Lernerfolg! Ihre Weichenstellungen und ihr Unterrichtshandeln sind also von wirklich zentraler Bedeutung.

Dies hat auch die Hattie- Studie vor einigen Jahren erneut anschaulich nachgewiesen.

Doch es gilt auch immer noch: “ Einen Jagdhund kann man nicht zum Jagen tragen“.