Wissenschaftler: Schulen sind schlecht auf Krisen vorbereitet – Digitalisierung kann helfen

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MÜNCHEN. Erst Corona, jetzt die Flüchtlingswelle aus der Ukraine: Deutschlands Bildungswesen vom Kindergarten bis zur Hochschule fehlt es nach Einschätzung des Aktionsrats Bildung an Krisenfestigkeit. In ihrem am Donnerstag in München veröffentlichten Jahresgutachten plädiert das renommierte Wissenschaftler-Gremium dafür, sowohl die Institutionen des Bildungswesens als auch Lehrende und Lernende besser auf Unvorhersehbares vorzubereiten – ein wesentlicher Aspekt dabei: die Digitalisierung.

Schülerinnen und Schüler, die gelernt haben, selbstständig mit digitalen Medien zu arbeiten, kommen in Krisen besser klar. Foto: Shutterstock

So fordert der Aktionsrat detaillierte Notfallpläne für Bildungseinrichtungen, eine bessere IT-Infrastruktur und eine größere Autonomie, damit diese im Zweifelsfall auch ohne Anweisung von oben handlungsfähig bleiben. «Unsere Gesellschaft hat sich viel zu lange sicher gefühlt, dass Pandemien, Krieg, Angriffe auf Leib und Sicherheit niemals stattfinden würden», erklärte Prof. Dieter Lenzen, ehemaliger Präsident der Universität Hamburg und Vorsitzender des Aktionsrats. «Das war ein gefährlicher Irrtum.»

Mitglieder des Aktionsrats sind neben Lenzen acht namhafte Bildungsforscher verschiedener Universitäten und wissenschaftlicher Institute, finanziert wird das Gremium von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft. Die Wissenschaftler geben Handlungsempfehlungen auf drei Ebenen: nicht nur für die Bildungseinrichtungen und deren Organisation, sondern auch für das Personal sowie die lernenden Kinder, Jugendlichen und Studenten.

Für ein zukunftsorientiertes Problem- und Risikomanagement sei eine «vorausschauende Vorsorge für zukünftig denkbare Konflikte und Krisen unabdingbar», heißt es in der mehr als 300 Seiten umfassenden Studie. «Insgesamt ist zu konstatieren, dass die COVID-19-Pandemie sowohl das Bildungs- und Erziehungssystem als auch viele Individuen (Lehrende wie Lernende) völlig unvorbereitet getroffen hat», so heißt es darin. «Offenbar hat sich niemand vorstellen können, unter welchen Bedingungen Bildung und Erziehung grundlegend in Frage gestellt werden könnten. Diesen Umstand muss man als Präventionsversagen des Staates charakterisieren. Die naive Annahme, dass das Bildungs- und Erziehungssystem von keiner Krise getroffen werden könnte, ist allenfalls dadurch erklärbar, dass die Bundesrepublik Deutschland spätestens nach dem Mauerfall der fast schon rührenden Auffassung anheimgefallen ist, ab dort werde nur noch Friede, Freude und Glück herrschen.»

Die Beeinträchtigungen und Erschütterungen des Bildungssystems durch die Pandemie zeigten die Defizite in aller Deutlichkeit. «Das Bildungssystem ist mit seinem eingebauten langsamen und inkrementellen Lernmodus für die Aufgabe eines resilienten Krisenmanagements schlecht ausgerüstet. Niemand sollte sich daher darüber wundern, dass die Reformrhetorik blüht, die Reformrealität aber leidet», so schreiben die Autorinnen und Autoren.

«Die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen sollte bereits in der frühen Bildung vermittelt und in der Primarstufe eingeübt werden»

Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Aktionsrat Bildung für den Bereich der Primarstufe konkret unter anderem: «Durch eine Förderung der Kernkompetenzen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften, des Wohlbefindens, des eigenständigen Lernens und positiver Beziehungen können Kinder schon im Grundschulalter Ressourcen erwerben, mit denen ihnen das Bewältigen einer potentiellen Krise leichter fällt. (…) Die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen (SRL) sollte bereits in der frühen Bildung vermittelt und in der Primarstufe weiter vertieft und eingeübt werden. Diese Förderung muss systematisch eine individualisierte Förderung im Rahmen von SRL auch den Lehrkräften helfen, sich gezielter um leistungsschwache Kinder zu kümmern. Aus dieser Perspektive lohnt es sich, detailliert die Vorteile von sowie die Rahmenbedingungen für erfolgreiches selbstreguliertes Lernen auszuwerten, ohne die dringend nötige verstärkte Förderung von Kernkompetenzen gerade schwächerer Lernender in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften aus den Augen zu verlieren.»

Bereits im Regelunterricht sollten digitale Endgeräte verwendet werden, damit die Kinder bereits gelernt haben mit diesen zu arbeiten, wenn es krisenbedingt zum Fernunterricht kommt. «Selbst wenn es in naher Zukunft nicht wieder zu einer gravierenden Krise kommen sollte, könnte die Umstellung des Grundschulsystems im beschriebenen Sinne (erhöhte Unterrichtsvielfalt durch digitale Endgeräte, neue pädagogische Konzepte, Vorleben und Lehren von SRL) zu einer Bereicherung des Unterrichts und der Entwicklung der Kinder im Allgemeinen führen. Schülerinnen und Schüler, die selbstständig lernen können, sind besser auf das im 21. Jahrhundert erforderliche lebenslange Lernen vorbereitet.»

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Für die Sekundarstufen empfiehlt der Aktionsrat die «Stärkung von Resilienz und 21st Century Skills durch Anwendung spezifischer Lehrmethoden». Heißt konkret: «Im Unterricht kann die Resilienz der Lernenden durch die Anwendung von Lehrmethoden wie kooperativem, selbstgesteuertem, forschendem Lernen sowie Lernen mit Unterstützung durch digitale Werkzeuge und die Fokussierung auf soziales und emotionales Lernen gestärkt werden. Diese Lehrmethoden sind seit langem in den Lehrplänen implementiert und durch eine Vielzahl empirischer Studien in ihrer Wirksamkeit belegt. Sie fördern neben dem Fachwissen zentrale Lern- und Innovationsfähigkeiten wie wissenschaftliches Argumentieren, Problemlösen, Kommunikation, Kooperation und Kollaboration, Lernstrategien, aber auch Motivation, Interesse und Wohlbefinden in der Schule und sollten daher vorrangig in den Schulentwicklungsplänen und in zukünftigen Fortbildungen als Ziele und Angebote verankert werden.»

Da digitale Werkzeuge wichtige Resilienzfaktoren wie Kommunikation, Kooperation, Kreativität und Problemlösen dynamisch unterstützten, bräuchten Schulen dringend entsprechende digitale Infrastrukturen. «Digitale Fähigkeiten stellen mittlerweile neben Mathematik, Lesen und den Naturwissenschaften eine weitere grundlegende Fähigkeit zur Ermöglichung von Teilhabe an unserer Gesellschaft dar. Daher sollte zur Stärkung von Resilienz aller Schülerinnen und Schüler Informatikunterricht zukünftig flächendeckend und verbindlich für alle Schularten der Sekundarstufe verankert werden.»

«Die Resilienz von Lehrkräften muss in der Lehramtsausbildung wirksam gefördert und im Schuldienst weiter gestärkt werden»

Der Aufbau einer nachhaltigen, stabilen IT-Infrastruktur sei auch auf der Ebene der Schule notwendige Bedingung für einen resilienten Umgang mit Krisen und Katastrophen, die Präsenzlernen unmöglich machen. «Dies kann nur gelingen, wenn Schulträger und Schulaufsicht die Schulen bei der Entwicklung von IT-Konzepten systematisch unterstützen und das notwendige Fachpersonal zur Verfügung stellen.»

Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerschaft und wissenschaftliches Personal sollten nach Einschätzung des Aktionsrats besser auf seelisch belastende Situationen und «Stressoren» vorbereitet werden, inklusive der Vorbeugung gegen Burnout. «Die Resilienz von Lehrkräften muss in der Lehramtsausbildung wirksam gefördert und im Schuldienst weiter gestärkt werden. Dies ist im Interesse der Lehrkräfte selbst, aber auch ihrer Schülerinnen und Schüler und der Schulen, in denen sie tätig sind», so heißt es. Gefördert werden sollten unter anderem «Enthusiasmus, Optimismus, Hoffnung, soziale und emotionale Kompetenzen».

Was die Kinder, Jugendlichen und Studentenschaft betrifft, so plädieren die Wissenschaftler unter anderem für spezielle Trainings, um psychische Ressourcen wie Achtsamkeit, Motivation, Optimismus und Beharrlichkeit zu fördern. Für vulnerable Schülergruppen sollten spezifische Förderprogramme entwickelt werden. Der Wirtschaftsverband vbw als Auftraggeber will auch die Eltern einbeziehen: «Denn nur wer selbst widerstandsfähig ist, schafft es auch, Kindern diese Fähigkeit vorzuleben und zu vermitteln», sagte vbw-Präsident Wolfram Hatz. News4teachers / mit Material der dpa

Hier lässt sich das vollständige Gutachten des Aktionsrats Bildung herunterladen.

„Permanenter Krisenzustand“: Studie von Katastrophen-Forschern zeigt auf, wie anfällig das Schulsystem ist

 

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3 Kommentare
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Kalkspatz
1 Jahr zuvor

Seltsame Annahme. (siehe Titel)

Frank
1 Jahr zuvor

Krisenfest durch Geräte, die eine nie dagewesen Abhängigkeit von Vermögen, Energie, Ressourcen, Infrastruktur und Unternehmen erzeugen, scheint mir nicht ganz logisch zu sein. Bei den anderen Punkten kann ich halbwegs mitgehen. Aber wer gut lesen, schreiben, rechnen und denken kann, wird kein Problem haben, Systeme zu bedienen, die für Zweijährige ausgelegt sind.

Alla
1 Jahr zuvor

Die Fähigkeit zum selbstregulierendem Lernen wird an den GS schon lange verlangt, da in den heterogenen Klassen viel differenziert werden muss.
Ich hatte große Hoffnungen in Lernapps gesetzt, die die Übungsphasen übernehmen. War ich naiv!
Gerade schwache SuS haben gar nicht gelesen, sondern auf gut Glück irgendeine der Auswahlantworten angetippt oder irgendetwas eingegeben!
Gerade schwache SuS, die nur wenig Ansrengungsbereitschaft zeigen, muss ich anders fördern. Gute und sehr gute SuS brauchen ganz andere Herausforderungen und sind von den Apps schnell gelangweilt. Ukrainische Flüchtlingskinder können im Fach Deutsch und Sachunterricht mit den deutschen Apps gar nichts anfangen, verhaltensoriginelle SuS müssen trotzdem engmaschig betreut werden.

Das Internet ist so schwach, dass max 3 Klassen gleichzeitig arbeiten könnten, was allerdings durch die begrenzte Anzahl an Endgeräten (25) sowieso nicht geht.

Aber Hauptsache man hat mit dem Begriff Digitalisierung den Stein des Weisen gefunden, der auch ohne LK für die Bildung unserer wertvollsten Ressource, den Kindern, sorgt.