TÜBINGEN. Die Förderung hochbegabter Schülerinnen und Schüler gehört zu den großen Herausforderungen im Bildungsbereich (schon deshalb, weil Potenziale nicht immer leicht auszumachen sind). Jessika Golle, Juniorprofessorin für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen, erforscht, wie Lehrkräfte Begabungen gezielt erkennen und fördern können – unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Dem „Spiegel“ gab sie dazu nun ein Interview.
Lehrerinnen und Lehrern vermuten bei Jungen mit eineinhalbmal höherer Wahrscheinlichkeit eine Hochbegabung als bei ebenso begabten Mädchen. Außerdem schätzen Lehrkräfte auch Kinder aus Familien mit hohem Bildungsstand eher als hochbegabt ein. Dies sind Ergebnisse einer Studie der Universitäten Tübingen, Maastricht und Jena, die in der Zeitschrift Gifted Child Quarterly unlängst veröffentlicht wurde (News4teachers berichtete). Eine der Autorinnen: Prof. Jessika Golle.
Golle beschreibt nun im „Spiegel“-Interview, dass Lehrerinnen und Lehrer insbesondere auffällige Schüler als begabt wahrnehmen, während introvertierte oder aus bildungsfernen Familien stammende Kinder leicht übersehen werden. „Lehrkräfte erkennen oft die pfiffigen und motivierten Kinder als begabt oder hochbegabt“, erläutert sie, doch zurückhaltende Kinder oder solche aus bildungsfernen Haushalten würden häufig übersehen. Gründe dafür lägen in unbewussten Vorurteilen, die auch Lehrkräfte hätten.
In der Praxis betrifft das häufig Mädchen – und Schülerinnen und Schüler aus armen Familien. Golle erklärt, dies liege vermutlich daran, dass „Lehrkräfte bei ihnen weniger hervorragende Leistungen erwarten.“ Mädchen seien oft zurückhaltender und sprächen weniger über ihre Erfolge, was dazu führe, dass ihre Leistungen weniger wahrgenommen würden. Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien oder mit Migrationshintergrund befänden sich in einer vergleichbaren Position.
„Mit der richtigen Förderung und den richtigen Persönlichkeitseigenschaften – etwa Beharrlichkeit – entwickelt sich Expertise“
Was ist überhaupt Hochbegabung? Schon die Definition ist nicht banal. Golle erklärt, man könne „Hochbegabung als Eigenschaft definieren“, dann gelte jemand als hochbegabt, wenn er „außerordentlich intelligent ist, also einen IQ von mehr als 130 hat“. Alternativ sei es möglich, Hochbegabung als einen Prozess zu verstehen, bei dem das Potenzial eines Menschen durch Motivation und Lernbereitschaft zu hoher Leistung führt. Die Fähigkeit, Wissen anzuwenden und durch Anstrengung eine hohe Kompetenz zu entwickeln, stehe dabei im Vordergrund. „Mit der richtigen Förderung und den richtigen Persönlichkeitseigenschaften – etwa Beharrlichkeit – entwickelt sich Expertise“, betont Golle. Es gehe also nicht nur um die Intelligenz allein, sondern auch darum, ob die Person ihr Potenzial ausschöpfen kann.
Standardisierte Tests böten die Chance, Begabungen zu entdecken, die sonst möglicherweise verborgen blieben. Solche Tests, erklärt sie, „können Lehrkräfte dabei unterstützen, ihre Einschätzung zu hinterfragen“. Wenn ein Kind in Tests gut abschneidet, werde häufig auch die Sicht auf das Kind positiv beeinflusst. Nachteile: „Solche Tests können zeitaufwendig und teuer sein im Vergleich zur Einschätzung durch die Lehrkraft“, merkt sie an. Die Ergebnisse könnten außerdem stark von der Tagesform des Kindes abhängen, was bedeutet, dass einmalige Testergebnisse nicht als endgültige Beurteilung angesehen werden sollten. „Wichtig ist daher, dass Lehrkräfte die Kinder hinterher nicht in Schubladen stecken“, so Golle.
Lehrerinnen und Lehrer sollten sich auch andere Aspekte beachten, die auf Hochbegabung hindeuten könnten. Golle erklärt, dass Hochbegabung sich nicht in jedem Fach oder durch überdurchschnittliche Noten zeigen muss. „Intelligenz und auch Begabung sind ja nicht unmittelbar sichtbar.“ Kinder, die gut im Problemlösen seien, Muster und Strukturen erkennen oder sich schnell Wissen aneignen könnten, hätten möglicherweise eine besondere Begabung, auch wenn sich das nicht in allen Fächern zeige. Es sei wichtig, dass Lehrkräfte eine ganzheitliche Sichtweise einnehmen und auch auf unkonventionelle Anzeichen achten.
Für die Erhebung des Potenzials setzt Golle selbst auf kreative und kindgerechte Aufgaben, wie sie in einem aktuellen Projekt entwickelt wurden. Hierbei müssen sich Kinder beispielsweise merken, welches Spielzeug zu welchem Monster gehört. „Das Ziel ist, dass die Kinder Freude an den Tests haben“, betont Golle, da die Motivation der Kinder wichtig für die Zuverlässigkeit der Ergebnisse sei. Auch sprachliche Barrieren seien in diesen Tests berücksichtigt, um auch Kinder mit Migrationshintergrund oder geringen Deutschkenntnissen gerecht zu beurteilen.
Golle gibt Tipps zur Förderung: Kinder, die in einem bestimmten Fach besonders stark sind, sollten die Möglichkeit erhalten, sich komplexeren Aufgaben zu widmen. Hierbei sei es jedoch wichtig, „sie nicht einfach nur mit schwierigeren Aufgaben zu konfrontieren, sondern eine Lernumgebung zu schaffen, in der sie auch scheitern dürfen“. Bei hochbegabten Kindern könne zudem das Drehtürmodell, bei dem sie in einzelnen Fächern den Unterricht einer höheren Klasse besuchen, sinnvoll sein. Für ältere Schülerinnen und Schüler sei mitunter ein früher Zugang zu universitären Kursen eine wertvolle Ergänzung.
Eine Klasse überspringen? Könne hingegen problematisch sein – insbesondere dann, wenn das Kind „Schwierigkeiten hat, mit älteren Kindern zu reden, Konflikte zu lösen, die eigenen Gefühle zu kontrollieren oder Verantwortung zu übernehmen“. News4teachers
Lehrer übersehen Hochbegabung häufiger bei Mädchen und Kindern aus bildungsfernen Familien
Naja, banal. Auch bei behinderten Kindern wird die Hochbegabung gerne übersehen…
Können Sie das durch Beispiele belegen? Beschränken Sie sich dabei aber bitte auf echte Hochbegabung, nicht die durch Eltern für ihre eigenen Kinder postulierte.
Ich mache den wenigen Kindern, die sichtlich unterfordert sind, häufig das Angebot an komplexeren Aufgaben arbeiten zu können. Mehr maße ich mir nicht zu, insbesondere nicht die Diagnose Hochbegabung, die bekanntlich erst ab IQ 130 startet. Das Geschlecht ist mir dabei egal (und nach meiner Erfahrung ungefähr gleich verteilt bei jedoch viel zu geringer Stichprobe, um daraus seriöse Aussagen zu treffen). Die Herkunft oder die finanzielle Ausstattung der Familie sind mir nicht bekannt. Schließlich setzt das Angebot von meiner Seite aus natürlich auch eine Nutzung des Potenzials voraus. An letzterem scheitert leider eine Menge.
Warum gibt es denn im Rahmen des “Monitorings” keine obligatorischen IQ-Tests? Die würden doch immerhin auf Hochbegabte aufmerksam machen.
Aber ein Problem bleibt: Hochbegabte sollten mit ihresgleichen in Kontakt kommen. Je heterogener die Schulklassen, je mehr Inklusion und je einheitlicher das Schulsystem, umso schlechter für die. vermutlich möchten gerade hochbegabte Mädchen nicht isoliert sein, also tun sie sich mit den anderen Mädchen zusammen, und schon erkennt man nichts mehr. Die Jungs können es offenbar eher aushalten, auch mal Außenseiter zu sein. Das hat auch Vorteile: Man macht sich nicht so abhängig von dem Urteil einer “Clique”.
IQ-Tests sind das Ultra-Taboooo.
Denn was dabei rauskommen würde (auch wenn IQ längst nicht alles ist) könnte (und würde) sehr, sehr unbequem sein.
Wird es niemals flächendeckend geben.
Der würde vermutlich alles erklären oder auf einen gemeinsamen Nenner bringen, was aktuell gut und schlecht läuft.
Bei Mädchen ist es teilweise wirklich so, dass sie unter ihren Leistungen bleiben, um nicht aus der Peer group heraus zu stechen. Das würde evtl. auch in einem IQ Test so stattfinden. Wichtig wäre tatsächliche Inklusion, also die Einstellung, dass wir alle verschieden sein dürfen – auch im Konträren, also auf einem oder mehreren Gebieten besser, ohne ausgegrenzt zu werden.
Und: Nicht zu unterschätzen. Gerade Mädchen sind oft empathisch und höflich (erzogen?) Sie fürchten tatsächlich, die Lehrkraft zu verletzen, wenn sie etwas schon längst können oder sich langweilen.
Ihr letzter Satz ist schon aufschlussreich: Jungen lieben es geradezu, Lehrer aufs Kreuz zu legen, wenn sie sich sicher fühlen, dass es ihnen nicht schadet. Bei Lehrerinnen sind sie vielleicht etwas zahmer.
Fazit: Die angebliche Benachteiligung der Mädchen geht auch von denen selbst aus (Abhängigkeit von der Peer Group, Gruppendynamik in Schulklassen). Ich war auf das Leben nach der Schule ganz gut vorbereitet, gerade weil ich mich nie vom Urteil einer Peer Group abhängig gemacht habe. Sowas führt zu einer “psychischen Schutzschicht”. Sowas heißt heute auch “Resilienz”.
Sie sind ein toller Mann und alle Mädchen sollten sich ein Vorbild an Ihnen nehmen. (Spaß) Herzliche Grüße Die Redaktion
Sollen die Mädels doch machen, was sie wollen. Wenn sie aber nicht besser sein WOLLEN als andere, dann sollen sie sich auch nicht beschweren, wenn sie nicht als hochbegabt erkannt werden und wenn es mit der MINT-Karriere nicht klappt. MINT-Fächer und Peer Group als alleiniger Maßstab — das geht wohl nicht gut zusammen. Es sei denn, die in der “Group” sind alle zumindest normal begabt und scheuen sich nicht, das auch zu zeigen.
Die Intelligenz streut bei Mädchen allerdings weniger als bei Jungs.
Intelligenz ist normalverteilt, entsprechend sind im “normalen” Bereich (IQ zwischen 85 und 115) nur ca. 68% aller SuS zu finden.
Neben den gut 16% darunter, die schon massiv von Sonderpädagogen versorgt werden (sollten), haben wir eben auch gut 16% darüber!
Von diesen 16% besonders-begabter SuS ist zwar nur ein kleiner Teil per Definition “hochbegabt”, dennoch bringen wir sie in der Schule nicht systematisch an ihre Grenzen, sondern unterfordern sie. Und während Mädchen sich noch eher einfügen, und unentdeckt bleiben, werden die Jungen offenbar eher auffällig – und werden entweder als besonders begabt erkannt, oder an Haupt- oder Förderschulen geschickt.
Es liegt an der Kompetenz der Lehrkräfte, ob Sie mit der Heterogenität zurechtkommen (können + wollen) und guten Unterricht für alle schaffen. Dazu brauchen Sie Wissen, Können und Wollen (professionelle Haltung), gute Beziehungen zu Schülerinnen und Schülern und natürlich Zeit für eine komplexe Unterrichtsvorbereitung. Sie brauchen aber auch klare Erwartungen und Vorgaben sowie endlich eine Reduktion von überbordender Bewertungstätigkeit, die nicht zur Verbesserung des Lernens der Schülerinnen und Schüler dient. Es ist ein Glück, wenn man solche Lehrkräfte in seiner Schule hat! Sie sind aber stets ein Stachel für jene, die es nicht können und wollen!
Das Problem bei ihrer Einlassung ist halt, dass es offenbar in Deutschland nur ein paar 100 dieser Top-Leister, die das alles wuppen können bei den Lehrern gibt. Für Spitzensport reicht es, wenn nur ein paar wenige in diese Sphären kommen. Bei einem Beruf, der Millionenfach benötigt wird und in dem schon jetzt ein Mangel herrscht, muss aber auch ein durchschnittlicher Lehrer die Situation mit seinen Schüler erfolgreich bewältigen können.
Es bringt in keinem Job etwas, zu erwarten, dass alle das leisten können, was die Besten ihres Faches vielleicht hinbekommen, wenn sie einen guten Tag haben. Das wird nämlich nicht passieren und die Arbeit muss gemacht werden.
Die Menschen werden Sie nicht auswechseln können, weder auf Lehrer noch auf Eltern noch auf Schülerseite. Der Weg sollte doch sein die Rahmenbedingungen für die vorhandenen beteiligten so zu gestalten, dass es für möglichst viele auf allen Seiten möglichst angenehm und erfolgreich bleibt. Dahingehend sehe ich aber wenig. In aller Regel wird auf die Lehrer immer mehr Arbeit in immer schwierigeren Situationen gepackt.
Mal davon ab, wird auch Ihre kompetente Lehrperson in einer “einfacheren” Unterrichtssituation möglicherweise mit den Beteiligten bessere Ergebnisse erzielen, wodurch auch hier alle von der weniger heterogenen Situation profitieren könnten.
“Es ist kein Luxus, Begabte zu fördern. Es ist ein Luxus, und zwar ein sträflicher, es nicht zu tun.”
Dr. Alfred Herrhausen